Es waren 50 Jahre beständiger Besuche in den brasilianischen Gefängnissen. Die Präsenz und das Handeln der Kirche unter und mit den inhaftierten Menschen wurzelt in dem Glauben, dass in jedem Menschen – egal welcher Herkunft und welchen Aussehens – Jesus Christus begegnet (Mt 25,40). Derzeit gibt es in Brasilien fast 1.000.000 inhaftierte Menschen, die in überfüllten Gefängnissen und unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt sind.
Der Anfang
Im Gefängnis kann man den „inhaftierten Jesus“ wahrnehmen: Qualen, Schmerzen und Leiden, den Schrei der „existentiellen Peripherien“, der am stärksten ausgegrenzten Bevölkerung des Landes. Seit Beginn des Christentums pflegte die Kirche Gefangene zu besuchen und sich um ihre schwächsten Glieder zu kümmern, eine Haltung, die zu den körperlichen Werken der Barmherzigkeit gehört. In den 1960er Jahren, als der frische Wind des Zweiten Vatikanischen Konzils stark wehte, prägten einige Ereignisse den Weg der Kirche in Lateinamerika, darunter der Pakt der Katakomben in Rom, ein im November 1965 unterzeichnetes Dokument, in dem sich die bischöflichen Unterzeichner für den Einsatz für die Armen in ihrem pastoralen Handeln verpflichteten.
Dies verändert alles theologische Denken, das seinen Ausgangspunkt im Leben der Menschen, in der Beziehung der indigenen Bevölkerung zur Mutter Erde, und somit den Weg bereitet für die Befreiungstheologie und indianischen Theologie mit der indigenen Bevölkerung Brasiliens, die die gesellschaftliche Sünde der Verletzung der Menschenrechte und der Missachtung der Menschenrechte anprangern. Die Konferenzen von Medellín (1968) und Puebla (1979) stellen den grundlegenden Meilenstein für die Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils und des Apostolischen Schreibens „Evangelii nuntiandi“ dar, die die zentrale Stellung der Person in der Evangelisierung hervorheben, und somit die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte und die klare Option für die Armen.
Zu dieser Zeit entstand als konkrete Antwort die national organisierte Gefängnisseelsorge in Brasilien, wie auch andere Institutionen, wie die Landpastoral (CPT), Pastoral der Indigenen Völkern (CIMI). Die Dokumente von Puebla sind bekannt für seine „bevorzugte Option für die Armen“ und darin finden wir einen ausdrücklichen Hinweis auf die Gefängnisseelsorge: Wenn die Kirche in der Verteidigung oder Förderung der Menschenwürde präsent ist, “tut sie dies in Übereinstimmung mit ihrem Auftrag, und erklärt, dass sie sich letztendlich mit den Enterbten, Kranken, Gefangenen, Hungrigen, Einsamen identifizieren wird. Der Evangelisierungsauftrag hat als unverzichtbaren Bestandteil das Handeln für Gerechtigkeit und die Aufgaben des menschlichen Fortschritts “ (Puebla 3.2)
Die ersten Schritte
ChristInnen haben schon immer brasilianische Gefängnisse besucht, so dass sich in den 70er Jahren verschiedene Bewegungen der katholischen Kirche (Cursillo, Jugendgruppen, Legião Maria, Vincentiner, Christliche Familienbewegung) zu dieser Mission berufen fühlten und die religiöse Hilfe in Brasilien intensivierten. Wo es gestattet war, organisierten sie Spiele und Unterhaltung, förderten Versammlungen, Kurse und „biblische Reflexionen“, hielten liturgische Feiern ab, besuchten Häftlinge und ihre Familien. Pater Alfonso Pastore war der erste Priester, der in den 70er Jahren in der Erzdiözese Vitória (Bundesstaat Espírito Santo), mit einigen LaienmitarbeiternInnen, sich für die Gründung und Anerkennung einer „Gefängnisseelsorge“ durch die brasilianische Kirche auf nationaler Ebene in Brasilien einsetzte.
Zu dieser Zeit wurde das erste Arbeitspapier für die Ausbildung der GefängnisseelsorgerInnen ausgearbeitet, die Initiative ging von Pater Paulo Ruffier SJ aus, ein Jesuitenpriester, der 1962 mit der Gefängnisseelsorge im Carandiru, dem berühmt berüchtigten Gefängnis in São Paulo begann. Dieser Leitfaden zur Ausbildung, der durch die reichen Erfahrungen vieler jahrelanger Gefängnisbesuche erstellt wurde, wurden zu einem Nachschlagewerk für das ganze Land und 1972, als von der brasilianischen Bischofskonferenz anerkanntes Ausbildungspapier, veröffentlicht. Die Organisation der Gefängnisseelsorge als Institution der Nationalen Bischofskonferenz von Brasilien (CNBB), erfolgte somit in Etappen und durch verschiedene Aufbauprozesse in den Diözesen, den Prälaturen und Regionalen Bischofskonferenzen. Dieser Prozess war in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich und wurde bestimmt von einer Reihe von Faktoren, hauptsächlich vom Engagement der Ortskirchen der dortigen Situation der Menschen, die durch wirtschaftliche, soziale und politische Probleme am stärksten gefährdet waren. Das erste nationale Treffen der Gefängnisseelsorge fand vom 7. bis 9. August 1973 in Rio de Janeiro statt. Als Ergebnis dieses Treffens wird ein Bericht 1974 vom brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB – Documento de Estudos N°4) veröffentlicht.
Carandiru Massaker
Am 2. Oktober 1992 findet in São Paulo, im größten Gefängnis Lateinamerikas im Carandiru, São Paulo, eine Rebellion statt, bei der es offiziell 111 Todesopfer gab und das als „Carandiru Massaker“ in die Geschichte einging. Dieses schreckliche Ereignis war markant und beeinflusste das Verständnis der Gefängnisseelsorge in Brasilien sehr und trug dazu bei, das das Thema „Der Traum Gottes ist: Eine Welt ohne Gefängnisse“ zum Leitwort der Sendung der Gefängnisseelsorge machte. 1993 gab es diese Pastoralgruppen bereits in 160 Diözesen. Trotzdem wurde in den Jahren von 1993 bis 1995 das Thema Gefängnis von der Gesellschaft und dem Staat vergessen. Obwohl die Gefängnisseelsorge mit wenigen MitgliederInnen immer wieder die zuständigen Behörden anfragten und anklagten, bekamen sie keine Rückmeldungen. Trotzdem wächst in dieser Zeit die Zahl der freiwilligen GefängniseelsorgerInnen in Brasilien und somit die qualitative pastorale Präsenz. Es wurde eine neue Broschüre zur Ausbildung von der nationalen Koordination unter der Leitung des Bischofsberaters Dom Demétrio Valentini, Bischof von Jales, SP, verfasst und veröffentlicht.
Missstände und Foltervorwürfe
Die brasilianische Gefängnisseelsorge und ihre pastorale Tätigkeit erweiterte ihr Netzwerk von Kontakten innerhalb und außerhalb des Landes. Die vielen Anklageschriften der Missstände und Foltervorfällen in den Gefängnissen gingen an verschieden Behörden auf Bundesebene, an Ministerien, Abgeordnete und ins Ausland. Die Aktivitäten in diesen Jahren sind gewachsen und haben zugenommen, vor allem die nationalen und regionalen Treffen der Koordinatoren, die Veröffentlichungen von Artikeln, Ausbildungsmaterialien, Interviews und die Teilnahme an den internationalen Treffen der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM), der Internationalen Kommission ICCPPC“, bei der jährlichen Versammlung der Bischöfe in Brasilien und andere Treffen von NGO´s mit dem Schwerpunkt zum Schutz der Menschenrechte.
Fastenaktion 1997
In Fortsetzung ihrer intensiven Arbeit der Evangelisierung und Förderung der Menschenwürde hielt die Nationale Koordination im Jahr 1994 in Foz de Iguaçu das Internationale Seminar zur Prävention und Bekämpfung von Folter ab, erstellte und verteilte Ausbildungszuschüsse für die GefängnisseelsorgerInnen zu diesem Thema. Aufgrund der wachsenden pastoralen Anforderungen wurde im Jahr 1995 durch viel Lobbyarbeit in die Nationale Bischofskonferenz, das Thema Gefängnis und Gefängnisseelsorge für die jährigen Kampagne der Fastenaktion behandelt. Mit der Zusammenarbeit von VertreternInnen der Gefängnisseelsorge stand die Fastenaktion 1997 unter dem Thema: „Geschwisterlichkeit und die Inhaftierten“ mit dem Motto „Jesus befreit aus Gefängnissen“. Die Veröffentlichung eines neuen praktischen Handbuches mit dem Titel „Wie macht man Gefängnisseelsorge?“ durch die Nationale Koordination ermutigte und motivierte viele Menschen, sich der Sache mit wachsender Begeisterung im ganzen Land zu widmen.
Hintergrund
GefängnisseelsorgerInnen in Brasilien sind unentgeltlich tätig, auch die nationale Vorstandschaft „verdient“ nichts. Die durchgeführte Umfrage wie viele GefängnisseelsorgerInnen es in Brasilien gibt und wer sind sie, hat ein überraschendes Ergebnis gebracht: Es gibt rund 5000 GefängnisseelsorgerInnen in Brasilien, 70% davon sind Frauen und 84% sind Laien; in 90% aller Diözesen in Brasilien gibt es kleine Gruppen der Gefängnisseelsorge. Dies klingt nach „vielen Leuten“ aber wenn man weiß, dass es hier knapp eine Million Frauen und Männer in den Gefängnissen gibt – sind wir sehr wenige.
Die Gefängnisseelsorge ist eine „Sozialpastoral“, die im allgemeinen am wenigsten Unterstützung von Kirche und Gesellschaft bekommt. Die Vorurteile sind groß, schließlich kümmern sie sich um „die Verbrecher und ihrer Familien“ und nicht um „unschuldige“ Kinder – diesen Satz hört man oft. Nur wenige ChristInnen der Gemeinden übernehmen die pastorale Aufgabe für diese spezielle Zielgruppe.
Zahlreiche Ereignisse und Menschen prägten in den Folgejahren diesen Weg durch das 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts: 1996 übernahm Pater Gunther Alois Zgubic die Koordination der Gefängnisseelsorge im Bundesstaat São Paulo und gehörte gleichzeitig zur Nationalen Koordination der Gefängnisseelsorge an. Er hat aufgrund der Fastenaktion 1997 das ganze Land bereist, um das Bewusstsein der Bevölkerung, der lokalen Kirche und verschiedenster Behörden zu stärken und auf die unmenschliche Realität von Gefangenen in den Gefängnissen aufmerksam zu machen. Im Jahr 1999, nach dem plötzlichen Tod von Pater Robert Francis Reardon, (Pater Chico), 1. Vorsitzender der brasilianischen Gefängnisseelsorger und ein großer Förderer der Gefängnisseelsorge, wurde Pfarrer Gunther Zgubic Nationaler Koordinator. Sein Nachfolger Pfarrer João Valdir Silveira, gab der Seelsorge in den Gefängnissen weitere Impulse.
Ein fünfzigjähriger Traum
2008 war geprägt von dem Treffen in der Dominikanischen Republik, wo die Delegierten und VertreterInnen der Gefängnisseelsorge von Lateinamerika und der Karibik, die sich 2008 in der Stadt Santo Domingo versammelten und das Dokument „Der Traum Gottes! Ein Kontinent ohne Gefängnisse” verabschiedeten. Eine missionarische Verpflichtung, die mit bei dem Internationalen Treffen des ICCPPC 2017 in São Paulo wieder aufgenommen und gefestigt wurde. Dieses Treffen endete mit einer nationalen Wallfahrt nach Aparecida do Norte zur Ehren der „Nossa Senhora Aparecida“, Patronin von Brasilien, der alle Inhaftierten, ihre Familien und die vielen ehrenamtlichen GefängnisseelsorgerInnen im riesigen Brasiliens anvertraut wurden.
Nach fünfzig Jahren ihres Bestehens setzt die brasilianische Katholische Gefängnisseelsorge ihren Weg der Evangelisierung und Förderung der Menschenrechte fort. Derzeit besonders herausgefordert durch die gravierende politische angespannte Lage in Brasilien. Diese Realität, fordert uns zu mehr Kontinuität und Treue zum Reich Gottes auf. Im Arbeitspapier der nationalen Verhandlungspunkte für die Hafenlassungen kommt dies besonders zum Ausdruck. In dem letzten Jahrzehnten wurde es dringend notwendig, das Thema der inhaftierten Frau mehr ins Zentrum des Sendungsauftrags der Gefängnisseelsorge zu stellen, da die Frauen in noch prekären und unmenschlichen Bedingungen leben wie die Männer. Sie werden vom Staat und der Kirche mehr und mehr in den Verliesen der Gefängnisse vergessen. Bei der Feier der Goldenen Jubiläums der brasilianischen Gefängnisseelsorge wollen wir allen Menschen gedenken, die die Gefängnisseelsorge in Brasilien geprägt haben. Sie träumen von einer Welt, die Papst Franziskus im Dokument “Fratelli tutti” vorschlägt, indem er von Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft spricht. Somit einer Lebenspraxis mit dem Geschmack des Evangeliums, weil in diesem „gemeinsamen Haus“ alles und alle miteinander verbunden sind.
Prison Pastoral in Exiting Church | Übersetzung: Monika Ottermann