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Flickenteppich der Resozialisierung. Strategie?

12. September 2020

In einem Beitrag der Fachzeitschrift „Neue Kriminalpolitik“ kritisiert der Jurist und Sozialwissenschaftler Bernd Maelicke den „Flickenteppich der Resozialisierung“ und fordert eine Enquete-Kommission des Bundestags zur „Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung“ unter Mitwirkung von Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Programme der Parteien auf Bundes- und Länderebene lassen Tiefe, Nachhaltigkeit und Wirkungsorientierung bisher wenig erkennen. Das Recht der „Enquête“ (frz., Untersuchung) gehört zu den klassischen Instrumenten der Legislative, um sich unabhängige Informationen über den Sachbereich zu beschaffen, das als Grundlage für Entscheidungen dienen kann.

Ende Juni 2020 haben Annalena Baerbock und Robert Habeck den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms für Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ziel vorgelegt, den Führungsanspruch für ihre Partei bei der Gestaltung der Zukunft zu untermauern. In 383 Paragraphen werden Grundsätze und konkrete Maßnahmen vorgelegt, die Maxime ist „zu achten und zu schützen“. „Veränderung schafft Halt.“ § 255 widmet sich dem Strafrecht, der Justiz und dem Strafvollzug. Den Begriff „Resozialisierung“ findet man nur in dem nichtssagenden Satz: „Im Bereich des Strafvollzugs soll Resozialisierung im Mittelpunkt stehen“. Immerhin: Im Vertrag der Großen Koalition vom Februar 2018 kommt das Wort Resozialisierung überhaupt nicht vor. Momentan bekleiden zwei Frauen und zwei Männer vom Bündnis 90/Die Grünen das Amt einer/eines Landesjustizminister/in: in Berlin, in Thüringen, in Sachsen und in Hamburg.

Zehn MinisterInnen gehören der CDU an, eine der SPD, einer der FDP. Auffällig ist der häufige personelle Wechsel – auch im Bundesjustizministerium. Hier profiliert sich gerade Christine Lambrecht (SPD) in der BILD-Zeitung mit der Schlagzeile „Wegsperren, solange es nötig ist“ – dabei widerspricht „Wegsperren“ eindeutig dem Menschenbild des Grundgesetzes und auch den rechtlichen Grundlagen moderner Sicherungsverwahrung. Insgesamt ergibt sich das Bild eines komplizierten und ungeliebten Ressorts – politische Schwergewichte profilieren sich wirkungsvoller in Fragen des Klimas, der Gesundheit oder der Globalisierung.

Verwirrsystem der stationären und ambulanten Resozialisierung

Der Jourmalist und Jurist Heribert Prantl konstatiert in seinem Beitrag zum Pfingstfest 2020: „Die Föderalismusreform hat die Wissenschaft vom Strafvollzug marginalisiert – und sie hat die gesellschaftliche Debatte über den Strafvollzug gekillt.“ Diese Reform aus dem Jahr 2006 hat zu ca. 80 verschiedenen Ländergesetzen zum Jugendarrest, zum Jugendstrafvollzug, zur Untersuchungshaft, zum Erwachsenenvollzug und zur Sicherungsverwahrung geführt – selbst Wissenschaftler wie Frank Neubacher kritisieren eine „neue Unübersichtlichkeit“, die Einheitlichkeit des Rechts- und Sozialstaats Deutschland ist grundlegend in Frage gestellt. Der versprochene föderale „Wettbewerb der Konzepte“ hat nicht stattgefunden. Ergebnis ist ein löchriger Flickenteppich. Und durch Corona werden die Löcher immer größer.

Für die ambulante Resozialisierung existiert dieses „Verwirrsystem“ bereits seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Rechtliche Grundlagen, Organisationsfragen, Fallzahlen und Fallsteuerung der Gerichtshilfe, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht sind trotz bundesweit gleichermaßen geltenden gesetzlichen Grundlagen in der StPO und im StGB in den jeweiligen Bundesländern höchst unterschiedlich geregelt – z.Zt. betrifft dies insgesamt ca. 250.000 Probanden (genaue Zahlen im Ländervergleich werden nicht erhoben). Das Klientel der Bewährungshilfe entspricht in vielen Merkmalen durchaus den Gefangenen im Strafvollzug, die Rückfallquoten sind allerdings nur halb so hoch – allein diese seit Jahrzehnten bekannten Daten verlangen grundlegende Reformen im Gesamtsystem der ambulanten und stationären Resozialisierung.

Ein weiteres Beispiel für den Flickenteppich: Die Quoten der Gefangenen in den Bundesländern entwickeln sich immer weiter auseinander. Schleswig-Holstein ist es in den letzten 30 Jahren strategisch gelungen, die Belegungszahlen auf 39 Inhaftierte pro 100.000 der Bevölkerung dauerhaft zu reduzieren (das ist etwa die Hälfte des Bundesdurchschnitts). Die gewollte Folge ist, dass weniger Gefangene mit den bekannt hohen Rückfallrisiken entlassen werden – weniger Gefangene bedeuten weniger Entlassene und weniger Entlassene bedeuten weniger Rückfälle. Zusätzlich werden so die hohen Kosten der stationären Freiheitsentziehung (in den 16 Bundesländern in 180 Gefängnissen für ca. 60.000 Gefangene pro Tag mindestens 130 EUR) in großem Umfang reduziert (in Schleswig-Holstein beträgt im Landeshaushalt der Anteil der Ausgaben für das Kapitel Justizvollzug nur rund 0,4% – bundesweit mit Abstand einmalig) – zumindest die Finanzminister sollten hellhörig werden.

Mit dieser Strategie wurden und werden große finanzielle Spielräume zum Ausbau der Bewährungshilfe und zur Förderung der Freien Straffälligenhilfe eröffnet – sie haben besondere Möglichkeiten, die rückfallfreie Integration wirksam zu fördern. Viele erfolgreiche Projekte weisen nach, dass durch beratende und zugleich kontrollierende Begleitung bei der Bewältigung des Lebens in Freiheit die öffentliche Sicherheit erhöht wird. Weitere Löcher im Teppich sind die divergierenden Quoten im Offenen Vollzug, Freigang, Urlaub und Ausgang, sie unterscheiden sich zum Teil bis zum Zehnfachen. Gleiches gilt für die zurückgehenden bedingten Entlassungen auf Bewährung, die wiederum die Chancen einer rückfallfreien Eingliederung nach der Entlassung grundlegend verbessern. Auch das sogenannte Übergangsmanagement bedarf dringend der gesetzlichen, organisatorischen und finanziellen Absicherung. Leuchtturmprojekte reichen nicht aus, wenn jeder Entlassene vor und nach der Entlassung systematisch vorbereitet und begleitet werden soll.

Nur im Saarland und in Hamburg gibt es Landes-Resozialisierungsgesetze, in den anderen Ländern muss ein Verwirrsystem unterschiedlichster Regelungen festgestellt werden. Dieser Befund eines strukturellen Legitimations- und Steuerungsproblems führt zu gravierenden Fragen an die Justiz- und Kriminalpolitik: Wodurch rechtfertigen sich diese großen Differenzen? Werden die öffentlichen Haushaltsmittel an den richtigen (wirksamsten) Stellen der Wertschöpfungskette „Resozialisierung“ eingesetzt? Warum gibt es kein unabhängiges Bundesinstitut, das nachhaltig und wirkungsorientiert Qualität und Kosten der ambulanten und stationären Resozialisierung kontrolliert?

Systemischer Wandel und „Große Transformation“

In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begann für den deutschen Strafvollzug die Neuzeit – wie wurde damals der Reformprozess ermöglicht? Es gab zahlreiche Fachkommissionen der Verbände, der Parteien, der Kirchen, des Bundesjustizministeriums, es gab Gesetzentwürfe von sogannten „Alternativprofessoren“, es gab den internationalen Ergebnistransfer. Herausragende Länder- und Bundes-JustizministerInnen aller Parteien, auch Bundespräsident Gustav Heinemann und seine Ehefrau Hilda, engagierten sich persönlich. Die Medien setzten sich stark für eine Reform ein. Das Bundesstrafvollzugsgesetz trat am 1.1.1977 in Kraft, es wurde zuvor im Bundestag und Bundesrat mit großen Mehrheiten beschlossen.

Wir brauchen – und nicht erst nach Corona – wieder einen neuen Aufbruch in eine neue Zeit. Föderale Vielfalt allein reicht nicht aus, immerhin geht es um Wirkungsweise und Wirksamkeit von Grundrechtseingriffen, um Rückfallverhütung, um Opferschutz, um Reduzierung sozialer Folgeschäden, um sozialen Frieden in der Gesellschaft – alles Aufgaben des modernen Rechts- und Sozialstaats. Gemessen an diesen Zielen ist das etablierte Resozialisierungssystem weit von einer optimalen Wirkung entfernt. Es genügt nicht, gleichsam naturwüchsig die weitere Entwicklung abzuwarten oder nur mit einzelnen Projekten und Initiativen kurzfristige Effekte erreichen zu wollen. In Österreich, in der Schweiz und in Deutschland ist diese (selbst-)kritische Analyse weitgehend identisch. In diesen Ländern gibt es aktuelle Experten-Memoranden für „Reso-Masterpläne“, für „Reso-Agenden 2025“ und für „10 Gebote guter Kriminalpolitik“, die in hohem Maße übereinstimmen und sich länderübergreifend vernetzen wollen – verbunden mit ähnlichen Überlegungen des Rates der Europäischen Union.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Friedrich Hölderlin, 1803/1808

Dies könnten hoffnungsvolle Zeichen für einen „Systemischen Wandel“ und für den Beginn einer nationalen und internationalen „Großen Transformation“ in der Resozialisierungspolitik sein. Es ist höchste Zeit für eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Zur Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung“, unter Mitwirkung von Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Was wir brauchen ist eine nationale und internationale Reso-Strategie.

Prof. Dr. Bernd Maelicke | Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg, Ministerialdirigent a.D.
Quelle: „Neue Kriminalpolitik“, 32. Jahrgang 3/2020, S. 242-244

 

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