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Feier des Gottesdienstes im gottlosen Gefängnis?

13. Dezember 2021

Gefangenen kommen oft aus einer ganz anderen Ecke. Ihre Heimat ist nicht die Kirche. Im Gottesdienst sind sie nicht zu Hause. Viele waren seit ihrer Erstkommunion oder ihrer Konfirmation nicht mehr in der Kirche. Viele kennen kaum noch das Vaterunser. Nicht wenige sind aus der Kirche aufgetreten oder waren noch nie drin. Viele kommen aus anderen Kulturkreisen. Wenn nur die Gefangenen zum Gottesdienst kommen würden, die auch draußen gegangen sind, wären die Knastkirche nahezu leer und wir bräuchten sonntags keinen Gottesdienst feiern. Warum gehen relativ viele Gefangene zum Knast-Gottesdienst? Sie kommen aus verschiedenen Motiven und mit sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Erwartungen.

Der Gottesdienst bringt erstens Abwechslung. In vielen Anstalten ist außer dem Gottesdienst am Wochenende nichts los. Die Zelle ist zu – 23 Stunden. So hat es auch in der Anstalt, wo ich tätig bin auf dem Hohenasperg, ein Gefängniskrankenhaus bei Stuttgart. Etwa ein Drittel der kranken Gefangenen geht sonntags zum Gottesdienst, darunter Operierte und Amputierte. Manche kommen auf Krügen, manch einer geht am Stock. Der Weg in die Kirche ist für sie sehr mühsam und auch gefährlich. Erst müssen die Fußkranken Treppe für Treppe herunter, dann über den Hof und: Treppensteigen. Manchmal sitzt einer im Rollstuhl. Er wird hochgetragen. Da kann einiges passieren, denn es gibt keinen Aufzug. Der Gottesdienst ist den kranken Gefangenen einiges wert. Oder ist es die Freistunde, die ihnen so wichtig ist?

Bilder der Fotostrecke „Kirchen(räume)“ in „Zeit Verbrechen“. Fotos: Daniel Stier

Es kommen überdurchschnittlich viele Inhaftierte der Psychiatrie zum Gottesdienst. Sie sind froh, dass sie mal rauskommen aus ihren dunklen Löchern. Auf dem Weg in die Kirche schnorren die psychisch Kranken die Mitgefangenen wegen einer Drehung an, denn viele sind „stier“ und auf der Beobachtungszelle darf nicht geraucht werden. Gegenüber dieser schrecklichen Beobachtungszelle ist die Kirche Gold, Manche Gefangene sagen: „Schade, dass der Gottesdienst so kurz ist, er könnte ruhig drei Stunden dauern.“. Ich glaube, dass das draußen nur wenige Pfarrer hören. Ganz anders aber die Inhaftierten der Sozialtherapeutischen Anstalt (SoThA), die auch auf Hohenasperg angesiedelt ist. Dort sind die Zellen auch am Wochenende den ganzen Tag offen. Von ihnen kommt kaum einer zum Gottesdienst. Das deutet darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Haftbedingungen und dem Kirchenbesuch. Je schlechter die Haftbedingungen sind, desto besser ist der Kirchenbesuch. Das ist also für die Gefängnisseelsorger – wenn man so will – eine schneidige Sache. Wenn wir uns für bessere Haftbedingungen einsetzen, müssen wir uns im klaren darüber, dass dann weniger Gefangene zum Gottesdienst kommen.

Zum Gottesdienst, um sich zu treffen

Gefangene gehen in manchen Anstalten auch zum Gottesdienst, um sich mit anderen Mitgefangenen zu treffen. Der Gottesdienst bietet die Möglichkeit, mit Gefangenen von anderen Stockwerken zusammenzukommen und alte Bekannte wiederzusehen. Der Gottesdienst oft die einzige Möglichkeit, um sich mit den eigenen Landsleuten zu treffen. So sitzen die verschiedenen Nationalitäten in Grüppchen zusammen und stören oft den Gottesdienst, zumal sie oft kein Wort oder kaum Deutsch verstehen. Das führt dazu, dass in manchen Anstalten ein eigener Gottesdienst für Italiener und Kroaten gehalten wird. Manche Kollegen finden das nicht gut, weil sie meinen, dass dadurch die Ausländer zusätzlich diskriminiert werden. Dadurch würde die Trennung zwischen Deutschen und Ausländern nochmal verstärkt. Die große Zahl von Ausländern und Andersgläubigen führt gerade in großen Gefängnissen und Untersuchungshaftanstalten oft zu einer unerträglichen Situation und manchmal zum Abbruch des Gottesdienstes, wie z.B. vor ein paar Wochen in Stuttgart-Stammheim.

Dort störten drei Gefangene den Gottesdienst so sehr, dass der Pfarrer sie ermahnte. „Wenn Sie nicht ruhig sind, dann schicke ich einen raus!“ Darauf wurde es dann noch lauter – und das während des  Hochgebets – bis der Pfarrer schließlich die drei Störer rausschickte. Die wollten jedoch nicht so recht . Dann schaltete sich ein Gefangener ein und sagte den dreien, sie sollen doch endlich rausgehen. Darauf antwortete ihm einer: „Du Wixer, sei ruhig“, und warf mit dem Gesangbuch nach ihm. Dann gab es erst recht Tumult. Ein Gefangener warf dem Pfarrer vor, er habe gar nicht das Recht, Leute aus dem Gottesdienst hinauszuwerfen. Der Pfarrer meint aber, das sei sein gutes Recht. Inzwischen war die Unruhe so groß, dass der Pfarrer sich gezwungen sah, den Gottesdienst abzubrechen.

Manchmal genügt ein Zwischenruf

Auch wenn wir nicht wie in Stammheim 120 Gefangene im Gottesdienst haben und bei uns keine Gesangbücher fliegen, trotzdem sind auch wir manchmal hilflos und mit unserem Latein am Ende. Was uns vor allem stört, ist, dass manche Gefangene sich in der Kirche so benehmen wie in der Kneipe. Und wenn dann noch einer Prost ruft, wenn man den Kelch hochhebt, dann kann einem schon der Kragen platzen. Als der Stammheimer Kollege die Gefangenen um Ruhe bat, bekam er von einem Inhaftieren zur Antwort: „Warum sollen wir ruhig sein? Die Jünger haben beim letzten Abendmahl auch geschwätzt. Und das hat Jesus auch nicht verboten.“ Manchmal genügt ein Zwischenruf, eine blöde Bemerkung, um mich aus der Fassung zu bringen. Manchmal bringen ein paar Störer unser ganzes Konzept durcheinander. Auf solche Störungen reagieren wir oft gekränkt. Es kränkt uns, dass wir bei den Gefangenen nicht so ankommen wie wir uns das wünschen. Es kränkt uns, dass alles, was wir sagen, manche gar nicht anspricht. Was machen wir falsch?

Liegt es nur an uns, oder vielleicht an dem, was wir zu verkünden haben? Wir reden in jedem Gottesdienst von Liebe, Vergebung, Versöhnung, aber das sind für die Gefangenen meist nur leere Worte, nur Worthülsen. Sie können manches nicht widerspruchslos hinnehmen. Da protestiert einer während der Predigt: „Sie reden da so schön von Vergebung. Dann gehen sie doch mal mit nach der Entlassung und dann werden Sie sehen, wie das ist mit Ihrer schönen Versöhnung. Gerade diejenigen, die sonntags noch in die Kirche rennen, sind die Schlimmsten. Die zeigen mit dem Finger auf uns. Von wegen Versöhnung und Vergebung…

Gerede nicht mehr hören können…

Für Gefangene, die Angst haben, dass sie nach der Entlassung auf der Straße stehen und liegen, ist es keine Hilfe und auch kein Trost, wenn sie im Gottesdienst hören: „Schaut die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Feld: Sorgt euch nicht um den morgigen Tag, der sorgt für sich. Gott sorgt für Euch.“ Wenn Gefangene während der Predigt dazwischenreden, dann sagen sie uns, dass sie das Gerede von einem treusorgenden Vater nicht mehr hören können. Sie haben es immer nur gehört, aber nie erfahren. Manche sind von ihrem Vater nur geschlagen, verprügelt, misshandelt worden. Manche zucken jetzt noch zusammen, wenn sie an ihren Vater denken und haben heute noch Angst vor ihm. Dass Gott unser Vater ist, ist für viele keine frohe, sondern eine schreckliche Botschaft. Vielen Gefangenen kommt es so vor, als ob da vorne einer steht, der von einem anderen Stern kommt und Dinge erzählt, die wirklich unglaublich sind. Nicht zu glauben.

Nicht umsonst nennen sie uns Himmelskomiker. Sie finden es komisch, dass wir vom Himmel reden in der Hölle. Dass wir dort von Vergebung reden, wo Vergeltung herrscht. Sie halten es für einen Witz, bei einer Schlägerei auch noch die andere Wange hinzuhalten . Manche lachen, wenn sie die frohe Botschaft hören: „Selig, ihr Armen!“ Einer der Armen, ein Lebenslänglicher im 24. Jahr, mehrere Gnadengesuche abgelehnt, sagt: „Sie predigen, dass Gott gnädig ist. Davon kann ich mir nichts kaufen. Mir wäre es lieber, dass die Justiz gnädig wäre.“ Viele Gefangene erleben vonseiten der Menschen genau das Gegenteil von dem, was sie von Gott gesagt bekommen. Ihr Leben widerspricht den Sprüchen der Bibel, die viele deshalb als leere Sprüche abtun. Dass Jesus anders urteilt und keinen verurteilt, ist nur ein magerer Trost für die Verurteilten. Menschen, die lebenslänglich für ihre Schuld büßen, tröstet es kaum, dass Gott zu guter Letzt Gnade vor Recht ergehen lassen wird. Vieles was Gefangene vom Gottesdienst hören, ist für sie kein Trost, sondern nur eine Vertröstung .

Nicht nur Ja und Amen sagen

Zum Bespiel der Inhalt des Liedes: „Der Himmel geht über allen auf“. Ein schönes Lied. Aber für Menschen, die durch die Hölle gehen, vielleicht doch nur eine Vertröstung auf das Jenseits. In einer gutbürgerlichen Gemeinde, wo die Leute einen Platz an der Sonne haben, lässt sich vieles leicht sagen, leichter, viel leichter als im Schatten des Todes. Dass Gott für jeden Menschen das Beste will, ist für Menschen im Knast eine Zumutung, dazu können sie nicht einfach Ja und Amen sagen. Das Murren und Rumoren der Gefangenen ist auch ein Ausdruck des Protestes. Die Protestdemonstration der Gefangenen erfolgt nicht immer mit Worten. Manchmal lassen sie auch ihren Körper sprechen. Sie sitzen mit verschränkten Armen da und zeigen so, dass sie sich verschließen für alles, was von da vorne kommt. Sie gähnen, um ihre Langeweile kund zu tun. Demonstrativ beten und singen sie nicht mit und weigern sich ausdrücklich, ein Gesangbuch oder ein Liedblatt in die Hand zu nehmen. Sie setzen sich in die letzte Reihe , setzen sich ab von dem, was da vorne abgeht. Und dennoch kommen sie.

Vielleicht kommen sie in der Hoffnung, doch ein gutes Wort zu hören. Ein Wort, dass ihnen ein wenig weiterhilft. Ein gutes Wort, das sie ein wenig tröstet. Manche kommen, weil sie wissen möchten, ob der Pfarrer ihnen etwas zu sagen hat. Sie sind neugierig, wie er seinen Mann steht. Manche gehen zum Gottesdienst, weil der Gefängnisseelsorger zu ihnen in die Zelle gekommen ist. Der Gottesdienst als Gegenbesuch, als Dankeschön. Manche sagen: „Ich gehe zum Gottesdienst, weil das der einzige Ort ist, wo ich das Gefühl habe, dass ich noch Mensch bin!“ Manche kommen zum Gottesdienst, um noch mal ein Stück ihrer Kindheit zu erleben. Vielleicht ist ihnen das gar nicht bewusst . Damals als sie noch Kinder waren und in die Kirche gingen, da war alles noch ok. Da war „Knast“ noch ein Fremdwort für sie. Wenn sie zum Gottesdienst gehen, möchten sie dass alles wieder so wird wie früher, als sie noch unschuldige Kinder waren.

Sich nicht hinter der Kanzel verstecken

Auch der Gottesdienst soll so sein wie früher, mit Weihrauch, mit allem Drum und Dran. Sie möchten auch, dass der Pfarrer sich richtig anzieht. Ich selbst bin im Gottesdienst normal angezogen und versuche den Gefangenen immer wieder klar zu machen, warum ich mich nicht verkleide. Ich meine, dass jede Verkleidung Distanz schafft und ich möchte alles vermeiden, was Distanz aufkommen lässt. Ich setze mich auch nicht vorne hin, sondern zwischen die Gefangenen. Ich verstecke mich nicht hinter der Kanzel, sondern stehe mitten unter ihnen. Ich tue es auch, weil ich meine, dass der Talar manchen Gefangenen an die Richtrrobe erinnert. Damit möchte ich nicht sagen, dass es falsch ist, einen Talar oder ein Messgewand anzuziehen. Jeder sollte sich so anziehen, wie er es für richtig hält. Jeder soll den Gottesdienst so feiern, wie er ihn für richtig hält.

Den Gottesdienst gibt es nicht, es gibt so viele verschiedene Gottesdienste wie es GefängnisseelsorgerInnen gibt. Jeder feiert seinen eigenen, ganz persönlichen Gottesdienst. Der ist, wenn man so will, einmalig und wer einen anderen kopieren will, der wird merken, dass das nicht geht. Ich glaube, es macht keinen Sinn, darüber zu streiten, welche Gottesdienstform richtig ist . Entscheidend ist, dass wir echt sind in allem, was wir tun und sagen. Dass wir nichts tun, was nicht von uns ist.

Haben Sie ein Päckchen Tabak, bitte?

Manche Gefangene kommen zum Gottesdienst in der Hoffnung, dass sie dort ein Päckchen Tabak bekommen. Ich meine, es ist zu billig, den Gottesdienstbesuch mit einem Koffer Tabak zu bezahlen. Darum gebe ich grundsätzlich keinem nach der Kirche einen Tabak, obwohl ich weiß, dass die Tabaknot gerade in einem Vollzugskrankenhaus sehr groß ist und der Tabak im Gottesdienst eine Rolle spielt. Da zählt einer die Kippen, die er vorher im Hof gesammelt hat, da reißt einer ein paar Blätter aus dem Gesangbuch, erstklassiges Zigarettenpapier. Da geht einer raus, um eine zu rauchen. Da tauscht einer seine Uhr gegen 3 Koffer. Da steht ein Gefangener bei der Kommunion vor mir. Ich lege ihm die Hostie in die Hand: Der Leib Christi. Er sagt nicht Amen oder Dankeschön; er schüttelt nur den Kopf. Ich sage nochmals. Der Leib Christi. Er schüttelt wieder den Kopf. Ich sage: Der Leib Christi. Er schaut mich bettelnd an: „Haben Sie nicht ein Päckchen Tabak?“ Man mag den Kopf schütteln über manches, was im Gottesdienst geschieht. Dabei wissen wir vieles nicht. Wir sehen nicht, was unter den  Kirchenbänken verschoben wird, wir merken nichts von den dunklen Geschäften, die unter dem Kreuz abgewickelt werden.

Untereinander wird nichts zugegeben

Der Gottesdienst dient den Menschen im Knast zu vielerlei. Aber das ist nicht alles. Es geschehen auch ganz andere Dinge im Gottesdienst. Manch einer sitzt da mit Tränen in den Augen. Andere weinen nach innen, aus tiefer Reue. Manchen sieht man förmlich an, wie sie mit sich ringen, ob sie sich diesmal zur Kommunion trauen. Manch einer faltet die Hände und betet: „O Gott, hilf mir doch!“ Ja, es wird auch gebetet im Gottesdienst. Das geben sie allerdings untereinander nicht zu, denn sie befürchten, dass sie sich dadurch praktisch eine Blöße geben. Beten erscheint vielen als Schwäche. Aber Gott weiß, wie viele Gefangene im Gottesdienst oder „in ihrer Bude im verborgenen“ beten. Viele leiden darunter, dass sie nicht mehr beten können, dass sie Worte nicht finden. Im Gottesdienst können wir ihre Sorgen und Nöte in Worte fassen, ihre Anliegen vor Gott zur Sprache bringen. Mit einfachen Worten sprechen wir aus, was not tut. Wir sollen keine vorformulierte Gebete aufsagen, sondern frei sprechen, frei aus dem Herzen. Gewiss, wenn wir so beten, werden wir manchmal mitten im Satz hängen bleiben. Manchmal werden wir ins stammeln geraten, manchmal verschlägt es uns die Sprache.

Aber es ist gar nicht schlimm, wenn auch die Gefangenen merken, dass auch wir uns als Vorbeter schwer tun im Gespräch mit Gott. Manchmal ist es besser zu schweigen als alles abzuspulen. Ich selbst leg immer wieder eine Stille von mehreren Minuten ein und lade die Gefangenen ein, in sich hineinzuhorchen. „Hören wir, was die Stille uns sagt.“ „Halten wir den Mund und seien wir still. Versuchen wir zu Gott zu kommen, zur Ruhe zu kommen. Vertrauen wir Ihm an, was wir sonst niemandem sagen können.“ Obwohl bei uns viele psychisch Kranke mit Psychopharmaka sind und oft gar nicht ruhig sitzen können, wundere ich mich immer wieder, wie still es oft im Gottesdienst ist und wie gut ihnen die Stille tut. Kein Schlüsselgerassel, keine Tür, die zugeschlagen wird, kein Radio, nichts, nur die Stille, die spricht.

Nicht die Worte sind wichtig

Das Wichtigste im Gottesdienst sind nicht unsere Worte. Mehr als Worte sagt ein Lied. Aber was sollen wir singen? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann das „Großer Gott wir loben Dich“ manchmal nicht mehr singen. Aber wenn ich die Gefangenen frage: „Was singen wir heute? “ Dann sagen sie immer wieder: „Großer Gott wir loben dich“. Das kennen sie, da können sie sich freisingen. Ich glaube es ist lieblos, Lieder singen zu lassen, die die Inhaftierten nicht so recht kennen. Vielleicht sollten sie Neues kennenlernen? Unsere Möglichkeiten als GefängnisseelsorgerIn im Gottesdienst sind begrenzt sind und dennoch meine ich, sollten wir unsere Möglichkeiten, das was im Gottesdienst möglich ist, nicht unterschätzen. Ich meine, dass im Gefängnisgottesdienst manches mehr möglich ist, was draußen in der Kirchengemeinde unmöglich ist.

Der Gottesdienst im Gefängnis ist lebendiger als in einer Kirchengemeinde draußen. Er läuft so stur ab – nach dem Schema F. Im Gefängnisgottesdienst kommt es nicht selten vor, dass man improvisieren muss. Der Gottesdienstplan kann nicht immer eingehalten werden. Das macht den Gottesdienst lebendiger, menschlicher.

Im Gefängnisgottesdienst kann man besser auf die Situation der Gemeinde eingehen als draußen, wo die Gemeindemitglieder sich in ganz unterschiedlichen Situationen befinden. Vor allem in der Predigt ist es leicht, die Gefangenen direkt anzusprechen. Manch einer fühlt sich direkt angesprochen und sagt: „In Ihrer Predigt haben Sie doch mich gemeint…“

Im Gefängnis ist es leichter, die Mauern der Konfessionen und den Bekenntnisfreien zu überspringen, die Trennwände der verschiedenen Religionen zu überwinden. Weil in unseren Gottesdiensten auch Muslime, Hindus, Buddhisten anwesend sind, merken wir spürbar, dass wir alle nur einen Gott haben oder an das Menschliche glauben.

Manche biblische Perikope lässt sich im Gefängnis leicht übersetzen. Z.B. die Geschichte vom Pharisäer und Zöllner. Da betet einer: „Herr, ich danke Dir, dass ich nicht so bin, wie solche, die Frauen vergewaltigen oder Kinder ficken.“ Und der Kinderschänder in der letzten Bank schlägt sich reuevoll an die Brust : „O Gott, sei mir Sünder gnädig!“

Geschichten spiegeln sich wieder

Gefangene verstehen oft besser als andere, warum das Evangelium eine Frohe Botschaft ist. Sie beneiden den verlorenen Sohn, der mit offenen Armen empfangen wird, während sie selbst oft Angst haben, nach der Entlassung heimzukehren. Manch einem wird bei seiner Heimkehr die Tür vor der Nase zugeschlagen . Mancher verlorene Sohn hat daheim Hausverbot. Jesus sagt zu der Ehebrecherin: „Geh hin und sündige nicht mehr.“ Es wäre schön, wenn das der Richter bei der Verhandlung auch sagen würde. In der Leidensgeschichte Jesu finden sich viele Gefangene wieder. Manch einer wurde auch von einem Judas verraten. Manch einer wurde im Gerichtssaal auch an den Pranger gestellt, bloßgestellt . Manch einer wurde auch aufs Kreuz gelegt. Und viele haben das Gefühl, dass Gott sie hängen lässt. Ihnen bleibt oft auch nur noch ein Gebet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“

Ihm näher gekommen durch die Gefangenen

Im Gefängnis habe ich die Tragweite von manchem Jesu Wort erst richtig verstanden. „Kommet zu mir, Ihr Mühselige und Beladene. Ich stoße keinen zurück.“ Auch nicht den Gefangenen, der sein eigenes Kind umgebracht hat. Auch nicht den noblen Herrn, der eine  Giftgasfabrik gebaut hat. Auch nicht den ehemaligen SS Kommandanten, der 3000 Juden kaltblütig erschossen hat. Auch nicht den Aidskranken, den Aussätzigen, der von vielen ausgestoßen wird. „Ich stoße keinen zurück.“ Was das bedingungslose Ja Gottes zu jedem Menschen bedeutet, habe ich erst im Gefängnis gelernt. Von den Gefangenen habe ich gelernt, dass Jesus die Hand Gottes ist und ich sein Handlanger sein darf. Im Gefängnis habe ich vieles gelernt, verstehen gelernt. Im Gefängnis habe ich mehr von Ihm erfahren als in der Kirche. Durch die Gefangenen bin ich Ihm näher gekommen als durch mein Theologiestudium .

Petrus Ceelen | Aus: Seelsorge und Strafvollzug 1991

 

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