Elf Jahre Seelsorge im Gefängnis haben mich viel gelehrt, persönlich wie im Dienst als Seelsorger. Wie wenig zum Beispiel ein Gerichtsurteil über einen Menschen aussagt. Oder wie anders ein Mensch sein kann hinter all den Fassaden der eigenen Lebenserzählung. Ich habe gelernt, dass es keinen Menschen gibt, der nur böse ist, und keinen, der nur gut ist. Besonders aber habe ich Demut gelernt angesichts des Glücks, (bisher) nie selbst im Gefängnis landen zu müssen.
Oft genug sind es nicht die großen Straftaten, sondern einige alltägliche Verwicklungen und Unachtsamkeiten verbunden mit schlimmen Unfällen oder tragischen Ereignissen, die Menschen hinter Gitter bringen. Manches Gespräch in den verschlossenen Hafträumen offenbarte mir eigene Abgründe, die ich womöglich sonst nie als solche wahrgenommen hätte. Ja, da konnte die vermeintliche Sicherheit, viel über andere zu wissen, der Erkenntnis weichen, eigentlich selbst noch auf der Suche zu sein. Dieses immer neu zurückgeworfen werden in den Moment, der eben noch nicht klar ist, noch nicht fertig und sicher, prägte auch meine Art der Seelsorge.
Nicht belehren, sondern erfahren
Nun bin ich schon fünf Jahre in der Klinikseelsorge – und die Erfahrungen hier bestätigen, was ich vorher lernte: im menschlichen Scheitern, den Brüchen, im Krankwerden und Altern, ja, auch im Sterben, sind wir alle miteinander verbunden. Wir tragen diese Gewissheiten des Lebens miteinander und es gibt keinen Grund, einander zu belehren oder zu beurteilen. Wir lernen nur miteinander – nicht aus schlauen Büchern, sondern im Erfahren und Teilen dieses so kostbaren, mit Glück und Unglück angefüllten Lebens.
Kein Bescheid wissender Lehrer
„Tut und befolgt alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen“, warnt Jesus die Leute angesichts der Reden religiöser Schriftgelehrter. Mit einem geflügelten Wort gesagt: sie predigen Wasser und trinken Wein. Da ich mich selbst auch als einen Gelehrten der Schrift verstehe, hier Botschaften schreibend zum Evangelium und da verkündigend in Seelsorge und predigend in Kirchen, geraten mir diese Worte Jesu zur Warnung angesichts der nahen liegenden Falle, sich mit den anvertrauten Schriften selbst zum Bescheid wissenden Lehrer zu machen, ohne diese wirklich zu leben.
Resonanz in eigenen Erfahrungen
Die Weisheit religiöser Schrift erschließt sich nicht im wörtlichen Aufsagen, sondern durch das sich hineinlassen ins Erfahren dessen, worum es darin geht. Damit wird das Hören zum Wichtigsten vor jedem Reden. Wer nicht hinhört, hat nichts begriffen. Es muss ein mitfühlendes Hören sein: weniger ein AUF das hören, WAS der andere sagt, sondern vor allem ein IN dem hören, WIE der andere da ist. Dann ist Hören immer zugleich ein Aufnehmen der Worte des anderen als auch ein Wahrnehmen ihrer Resonanz in den eigenen Erfahrungen. So wird Erkenntnis, wie Leben ist. Erst dann kann ich, tastend und würdigend, was geschieht, beginnen, Worte zu finden, um zu erzählen – von dem, was das Leben lehrt.
Durch Mit-Teilen geschieht Heilung
Im Hören der Botschaft Jesu entdecke ich ein tiefes Zutrauen in das Leben. Seine Hingabe erzählt, wie sehr er davon überzeugt war, Gott selbst habe sich völlig in dieses menschliche Leben mit all seinen Brüchen und Abbrüchen und in seinem Scheitern und Neuanfangen hineingelassen, bedingungslos liebend. Wo immer wir in unseren Begegnungen beginnen Worte zu finden für das, was oft so unsagbar in uns ist, und diese einander teilen, ohne einander zu beurteilen, da erfahre ich von dieser göttlichen Kraft in und zwischen uns Menschen: zu vertrauen, zu lieben. Dann können wir erzählen, wovon das Herz erfüllt ist – und spüren, wie schon im Mit-Teilen Heilung geschieht.
Christoph Kunz | Matthäus 23, 1-12