Anne Stickel ist deutsche evangelische Theologin, die in Medellín mit ihrem kolumbianischen Mann lebt. Im Briefwechsel per E-Mail unterhält sie sich mit Angelika Hartmann, katholische Theologin aus dem süddeutschen Raum. Auszüge ihres Briefwechsels werfen einen spirituell-besorgten, aber auch ermutigenden Blick auf die Coronakrise in den verschiedenen Welten: Kolumbien und Deutschland.
Liebe Angelika,
es ist Sonntag Nachmittag. Wie fast immer, sitze ich bei offenem Fenster an meinem Schreibtisch. Die Veränderung der Klangwelt draussen ist die von Welten. Eine Stille liegt über dem Stadtviertel, wie sie sonst nur in Dörfern, weit weg zu hören ist. Grillen zirpen leise, ein paar Hühner gackern, Hunde jaulen, hier und da ein Kind. Kein Bus, kein Auto, kein Motorrad, auch der Lärm im weiten Hintergrund, von der Stadtautobahn, der sonst wie ein leichtes grau in der Luft liegt, ist verschwunden. Selbst der Himmel scheint das zu spüren, um klarer zu leuchten als sonst. Und die Vögel, zwitschern unbeschwert, haben sie jetzt doch allen Platz am Firmament für sich, weil auch Flugzeuge am Boden geblieben sind, schweigend leise.
Uns (in Kolumbien) wurde die Quarantäne erklärt. Bis zum 12. April. Erstmal. Zu Hause bleiben, Einkaufen und zur Bank gehen darf, wenn, dann nur noch eine Person pro Familie. Bei Euch, lese ich, wurden aktuell Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen untersagt – aber Ihr dürft weiterhin spazieren gehen! Wie gut, was für ein SEGEN. In der Wochenzeitung „Freitag“ las ich einen be-denkens-werten Artikel zur Veränderung der Welt: Ein „zurück-zu-wie-es-vor-Corona-war“ gäbe es nicht mehr, Handlungsweisen aus Demokratie und Diktatur würden vermischt, auch in der Politik. Wie du das wohl siehst und empfindest?
Liebe Anne,
während wir Menschen uns zurückziehen müssen, platzt die Natur aus allen Nähten, bricht auf, hält sich nicht auf Distanz, spricht zu und mit uns. Was für ein Wunder. Ich fühle mich wie in einem Kaleidoskop, dessen Farbkleckse und teile wir alle sind. Mit jeder Bewegung des Virus wird das ganze Bild neu zusammengesetzt, unser Ort wird verändert, unsere Verortung und Beziehungen umgeschmissen, und während wir versuchen, eine neue Situation zu verstehen, folgt schon der nächste Zug des Virus, und das Spiel beginnt von neuem.
Liebe Angelika,
was für eine Zeit! Jetzt, während die vom Menschen konstruierte Welt zusammenbricht, mitten im aufbrechenden Leben, im Frühling. Und einer Natur, leer von Menschen, frei von uns, sich zu entfalten. So besonders. Die Fotos, die Du mir geschickt hast, habe ich wie Lebensodem in mich aufgenommen, wie Tauperlen in einer „Copa“ (Trinkglas) auf meiner Seelenzunge zergehen lassen. Dieses Licht ist so besonders. Und Du hast einen außerordentlich guten Blick für die Aufnahmen. Da ist nichts überladen, es ist schlicht sehr aussagekräftig. Danke für diese Bilder, Angelika. Sie sind wunderschön.
Eine Auszeit wollte ich, weißt Du noch? Und nun ist sie mir beschert, mitten in der Welt, mitten im Geschehen, in den vier Wänden nicht eines Klosters, sondern meinen eigenen, eine Quarantäne. Auch Jesus war ja 40 Tage im Nirgendwo seiner Welt unterwegs. Zeit brauchte ich, erinnerst Du Dich? Und da ist sie. Und es stimmt, was Du sagst: DASS es heilsam ist, aus uns heraus zu schreiben.
Und wenn wir voneinander lesen, ist es, als löse sich eine “toxische Sphäre”, ganz seltsam, ganz gelöst und ganz wirklich. Das bietet uns diese wundersam anmutende Zeit, uns allen Menschen, die auf sich selbst zurück geworfen sind, wie selten zuvor in der Geschichte, die jedenfalls Du und ich kennen. Und wie so oft in diesen Tagen, sage ich Dir dafür: Danke! Es tut so gut. Gott segne Dich. Was für eine Zeit. Wirklich unwirklich, wie alles gerade!
Den Blumenkuss habe ich im Wald in der Nähe von Medellin gefunden. Den Namen der Blume kenne ich nicht.