Empathie für Fundamentalisten mag nach einem Oxymoron klingen, gilt Fundamentalismus doch seinerseits oft gerade als Negation jener Achtung des Verschiedenen, die Empathie für Fundamentalismus bedeuten würde, und wird Fundamentalismus oftmals als eine Haltung beschrieben, die ihrerseits Empathie ausschließt. Es geht nicht um eine Rehabilitierung des Fundamentalismus, sondern vielmehr um die Klärung „unseres“ Verhältnisses zu Fundamentalisten – wobei mit „uns“ schlicht alle Menschen gemeint sein sollen, die Fundamentalismus – in welcher Form auch immer – grundsätzlich ablehnen.
Unsere grundsätzliche Ablehnung kann verschiedene Gestalten annehmen. Sie kann in einer kategorischen Ablehnung all dessen bestehen, was wir Fundamentalismus nennen, etwa nach dem Motto: keine Toleranz für Intoleranz. In diesem Sinne erschöpft sich unsere Einstellung gegenüber konkreten Erscheinungen des Fundamentalismus in der Ablehnung. Eine kategorische und nicht auf differenzierter Auseinandersetzung gründende Ablehnung von Fundamentalismus mag in vielen, dürfte aber nicht in allen Fällen angemessen und sinnvoll sein. Eine differenzierende Betrachtung und Beurteilung von Fundamentalismus kann zwar letztlich auch zu dem Ergebnis führen, dass die diskursiven Praxen und Einstellungen, auf die wir treffen und die wir Fundamentalismus nennen, abzulehnen sind – aber es macht einen Unterschied, ob dies ein mögliches oder gar wahrscheinliches Ergebnis der Begegnung mit Fundamentalismus oder zwingende Konsequenz einer Vorentscheidung, die in dem Augenblick bereits abschließend gefällt ist, in dem bestimmte Praxen und Einstellungen als fundamentalistisch identifiziert sind. Mithin geht es im Folgenden um die Frage, welches Spektrum von Haltungen es gegenüber Fundamentalismus geben könnte bzw. geben sollte, und Empathie ist der Leitbegriff, entlang dessen ich diese Frage konjugiere.
Eine reflexartige Ablehnung des Fundamentalismus halte ich für kritikwürdig. Die viel zitierte, leicht auf den Fundamentalismus zu beziehende Maxime: „Never argue with an idiot. They will only bring you down to their level and beat you with experience“ – diese Maxime ist bei genauerem Hinsehen in einer signifikanten Art und Weise problematisch. Die zitierte Maxime unterstellt, dass die Idioten – oder eben die Fundamentalisten – ihren Mangel an argumentativem Niveau erfolgreich durch die Inszenierung von Erfahrungen kompensieren. Aber die darin implizierte Alternative von Argument und Erfahrung ist unbefriedigend. Ohne die Anschauung durch Erfahrung sind unsere begrifflich entwickelten Argumente blind. Ohne die Dimension von Erzählung und Selbsterzählung ist Ethik zumindest blass. Die Frage ist doch, um die zitierte Maxime noch einmal aufzugreifen: Warum meinen wir, dass keine Erfahrung die durch Fundamentalisten vertretenen Positionen legitimieren kann, oder vorsichtiger formuliert: Warum meinen wir, dass die von Fundamentalisten aufgeführten Erfahrungen ihre bestimmten Positionen nicht legitimieren können?
Mit dieser vorsichtigeren Formulierung möchte ich auf eine möglicherweise wichtige Unterscheidung hindeuten: Es gibt fundamentalistische Positionen, etwa offen Menschengruppen verachtende Positionen, von denen wir mit guten Gründen kategorisch sagen würden, dass wir keine vorgetragenen Argumente und mithin auch keine Verweise auf welche Erfahrungen auch immer als Begründung für diese Positionen gelten lassen würden. Es gibt aber auf der anderen Seite auch solche fundamentalistischen Positionen, von denen wir sagen würden, dass wir zwar aus guten Gründen für alternative Deutungen der diese Positionen motivierenden Erfahrungen eintreten, und dass wir uns niemals diesen fundamentalistischen Deutungen anschließend würden, dass es aber um Willen des Dialogs sinnvoll sein kann zu fragen und zu verstehen, wie diese Deutungen zustande gekommen sind.
Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn wir auf Formen des Fundamentalismus stoßen, die homophobe und antisemitische Züge annehmen, dann kann es keinen Grund geben, sich mit den Behauptungen näher auseinanderzusetzen, die als „Begründungen“ für diese Positionen vorgebracht werden. Dialog ist kein Zweck an sich, Empathie für Schwachsinn führt sich selbst ad absurdum. Wenn wir hingegen auf Skepsis gegenüber einer als individualistisch, narzisstisch, säkularistisch, libertinistisch, imperialistisch und konsumeristisch empfundene Moderne stoßen, dann kann es Sinn machen, sich anzuhören, wie diese Skepsis motiviert ist. Weiterhin: Dass die Achtung von Menschenrechten einzuklagen ist, ist unverhandelbar. Wenn wir aber im Dialog mit anderen Kulturen und Traditionen auf Skepsis gegenüber einer mitunter formulierten Erwartung stoßen, dass diese jeweiligen Kulturen und Traditionen fundamentalethische Positionen, die das menschliche Subjekt und sein „Recht auf Rechte“ (Hannah Arendt) ins Zentrum stellen, als den moralischen Kern auch ihrer eigenen Tradition wieder erkennen sollen, dann ist es um der Verständigung willen naheliegend, der Differenz mit Blick auf moralische Letztbegründungen nachzuspüren. Dass ein Konsens über die Pflicht zur Achtung der Menschenrechte erreicht werden muss, ist davon unberührt – Konsens im konkreten moralischen Urteil kann auch aus heterogenen Quellen und Begründungsformen hervorgehen.
Wenn wir also auf Vorbehalte gegen die Erwartung stoßen, dass alle Menschen einer von manchen als westlich imprägniert empfundenen Begründung der Menschenrechte zuzustimmen hätten, dann meine ich, lohnt es sich, diese Vorbehalte anzuhören.
Die Betonung liegt bei meiner letzten Bemerkung auf dem Aspekt der Begründung von Menschenrechten. Menschenrechte sind nicht verhandelbar, aber über die Implementierung von Menschenrechten in Rechtssystemen von Nationen muss eben trotzdem verhandelt werden, es muss erklärt werden, warum diese Anerkennung gefordert wird. Es ist wenig hilfreich, einfach nur zu sagen, dass diese Anerkennung einfach selbstverständlich gewährt werden muss, so als mangele es all denen, die das noch nicht verstanden haben, irgendwie an einem Wahrnehmungsorgan für selbstevidente moralische „Tatsachen“, die doch auch die westliche Tradition, auch und gerade das Christentum, erst in einem langwierigen Erkenntnisprozess als Bedeutungspotential ihrer eigenen moralischen Tradition erschlossen haben und nicht, wenn Fundamentalismus mit einer Missachtung von Menschenrechten einhergeht.
Empathie für Fundamentalisten bedeutet vielmehr zu verstehen, was für Fundamentalisten eben aus möglicherweise in Grenzen nachvollziehbaren Gründen nicht selbstverständlich ist. Dafür, dass andere Nationen sich der Selbstverpflichtung auf Menschenrechtskataloge anschließen, kann man auch dann werben, wenn man keine gemeinsame anthropologische oder spekulative Begründung für die Geltung der Menschenrechte finden wird.
Möglicherweise eröffnet Empathie für fundamentalistisch motivierte Menschenrechtsskepsis die Möglichkeit dazu, gemeinsam an begründungspluralistischen Zugängen zu Menschenrechten zu arbeiten.
Empathie für Fundamentalisten bedeutet nicht, der fundamentalistischen Position zuzustimmen, sondern zu verstehen, warum es dem Fundamentalisten so schwerfällt, der Position seines Gegenübers zuzustimmen. Besonders wenig hilfreich hingegen ist es, den traditionalistisch geprägten Vertretern einer anderen Kultur oder Religion vorzuhalten, dass es ja auch liberal und humanistisch gesinnte Vertreter ihrer jeweiligen Kultur gibt, die humanistische Lesarten ihrer Tradition vertreten. Das wäre strukturell gesehen dasselbe, wie wenn man einem liberal geprägten Christentum vorhalten würde, dass es auch einen christlichen Fundamentalismus gibt, dass es auch christlich motivierte Haltungen gegeben habe und gebe, die mit Menschenrechten überhaupt nicht zu vereinbaren seien, und dass die gegenwärtige christliche Affirmation von Menschenrechten eigentlich eine Modeerscheinung sei, und dass das „eigentliche“ Christentum im Verlaufe seiner Geschichte mit Menschenrechten wenig zu tun habe.
Ich würde einer solchen Deutung des Christentums widersprechen wollen und können, aber es macht wenig Sinn darüber zu streiten, welche Erscheinungen der Geschichte anderer Religionen als der eigenen nun als eigentlich maßgeblich zu gelten haben. Es wäre hilfreich, wenn nicht eine Religion der anderen sagt, was der eigentliche Kern der je anderen Religion sein sollte. Und es ist – damit bin ich wieder beim Thema Empathie für Fundamentalismus – nachvollziehbar, wenn Religionsangehörige mit Ablehnung auf solche Fremddeutungen reagieren. Empathie für Fundamentalisten bedeutet also nicht, sich emotional von den Erfahrungen anstecken zu lassen, die den Fundamentalismus motivieren, sondern die Narrative der anderen Perspektive zu imaginieren.
Mit Empathie meine ich wie bereits angedeutet nicht emotionale Ansteckung, sondern den komplexen Vorgang, sich ein Bild vom Anderen und seinem Blick auf die Welt zu machen, immer in dem Wissen darum, dass es nur ein Bild ist, das nicht aus einer unmittelbaren Wesensschau, sondern aus Akten der Vorstellungskraft hervorgeht. Wenn ich sage, dass unsere Vorstellung vom Anderen nur ein Bild ist, dann meine ich das nicht im Sinne einer Dekonstruktion jeglicher Ethik oder eines Plädoyers für moralischen Nihilismus, sondern in dem Sinne, dass wir nichts anderes haben als Bilder von Handlungs- und Entscheidungssituationen und die Dynamiken dieser Bilder, mit denen verantwortlich umzugehen die Aufgabe der Ethik ist.
Ich beziehe mich v.a. auf Adam Smiths Theorie des moralischen Gefühls, und hier auf die Idee des neutralen Beobachters: Smith meint, wir sollten uns immer vorstellen, wie ein neutraler Beobachter unsere – empathischen und sonstigen – Emotionen beurteilen würde, mit denen wir in Handlungssituationen auf andere Menschen reagieren. Hier wird deutlich, dass eine Ethik der Empathie ihren moral force nicht kraft emotionaler Spontanität, sondern vermöge der Vorstellungskraft des Menschen entwickelt. Der neutrale Beobachter, der bei Smith die Funktion hat, kontingente Bewertungen des Individuums zugunsten einer intersubjektiven Perspektivierung zu relativieren, ist eine produktive Fiktion, und die Perspektiven, die ihm zugeschrieben werden, sind ebenfalls nur imaginiert. Und entstehen können diese Imaginationen nur im Spiel mit Perspektiven, die wir irgendwann im realen Leben kennengelernt haben, wobei ich den Umgang mit literarischen Fiktionen und deren moralischen Perspektiven in diesem Sinne als Teil des realen Lebens begreife.
Niemals können wir unsere Empfindungen und Beweggründe überblicken, niemals können wir irgendein Urteil über sie fällen, wofern wir uns nicht gleichsam von unserem natürlichen Standort entfernen, und sie gleichsam aus einem gewissen Abstand von uns selbst anzusehen trachten. Wir können dies aber auf keine Weise tun, als indem wir uns bestreben, sie mit den Augen anderer Leute zu betrachten, das heißt so, wie andere Leute sie wohl betrachten würden. Demgemäß muss jedes Urteil, das wir über sie fällen können, stets eine gewisse unausgesprochene Bezugnahme auf die Urteile anderer haben, und zwar entweder auf die Urteile, wie sie wirklich sind, oder, wie sie unter bestimmten Bedingungen sein würden, oder, wie sie unserer Meinung nach sein sollten. Wir bemühen uns, unser Verhalten so zu prüfen, wie es unserer Ansicht nach irgendein anderer gerechter und unparteiischer Zuschauer prüfen würde.
Mithin ist Empathie ein Spiel von Imaginationen, die Flexibilität im Dialog ermöglichen, wobei nicht verschwiegen sei, dass Empathie auch zu moralischen ‚Fehlzündungen‘ führen kann. Empathie wird dadurch nicht zu einer Fantasterei, denn sie ist eingebunden in die Vielstimmigkeit realer moralischer Perspektiven. Ein Impuls für eine Schubumkehr, die mich automatisch umdrehen würde, wenn ich die Perspektive des Anderen imaginiere: das ist Empathie nicht in Kontexten reflektierter Ethik, sondern als manipulatives Instrument.
Empathie für Fundamentalisten bestünde vor diesem Hintergrund in einem beidseitigen Waffenstillstand: Beidseitiger Verzicht auf die Inanspruchnahme letzter Fundamente und das Eingeständnis von irreduzibler Ambiguität, Verzicht auf die Behauptung, dass bestimmte Erfahrung eindeutig zu bestimmten Positionen nötigen, Bereitschaft zu imaginieren, dass die Welt aus Sicht des anderen – des Fundamentalisten – anders aussieht, was wie gesagt nicht bedeutet, dieser Weltdeutung zuzustimmen, sondern im Gegenteil auch bedeuten kann, die Weltsicht des Fundamentalisten besser verstanden zu haben und ihr zugleich differenzierter und entschlossener entgegentreten zu können.
Mein skeptisch-ethischer Vorschlag impliziert nicht, dass es keine letzten normativen Grenzen gibt. Von den historischen Erfahrungen, die unser westliches Verständnis von Menschenrechten und Menschenwürde als letzte Appellationsinstanz normativer Urteilsbildung motivieren, werden wir uns nicht distanzieren können, weil diese Erfahrungen uns eben unbedingt binden. Aber die Möglichkeit sollte geschaffen werden, dass wir uns über die Geltung der Menschenrechte auch in dem Fall verständigen, dass andere Kulturbereiche sich nicht aus „unseren“ Gründen zu Menschenrechtskatalogen verpflichtet sehen. Und dabei geht es eben keineswegs allein oder in erster Linie um rein ‚akademische‘, fundamentalethische Auseinandersetzungen, sondern um praktische Fragen wie jene, wie Radikalisierungsprävention und der Integrationsarbeit mit Geflüchteten auch und gerade mit Blick auf die Möglichkeit einer Empathie gegenüber Fundamentalisten zu gestalten sind. Zutreffend bemerkt Thomas Auchter: „Wir kommen nur voran, wenn wir den malignen narzisstischen Haltungen etwas anderes entgegensetzen. Nämlich Differenzierung, Toleranz, Fragen, Aushalten von Unterschieden, Unsicherheit und Unlösbarkeiten statt Gewaltlösungen.“ Intoleranz gegen Intoleranz, Empathielosigkeit gegenüber Empathielosigkeit sind nachvollziehbare, aber eben keine weiterführenden Haltungen.
Prof. Dr. Jochen Schmidt | Universität Paderborn