Das Jahr 2024 geht mit Erschütterung und Leiderfahrung zu Ende. Das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg hat tiefe Verwundungen in der Stadt hinterlassen, Menschen wurden getötet und schwer verletzt, viele traumatisiert. Einige fühlen sich nicht mehr sicher und von der Politik allein gelassen. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza werden brutal weitergeführt. Es ist, als bliebe alle Menschlichkeit auf der Strecke.
Bisher stabile Demokratien drohen in Populismus und Abschottung abzugleiten. Und in unserem Land ist das Regierungsbündnis im Streit zerbrochen; es war nicht möglich, die großen Herausforderungen gemeinsam zu gestalten. In der Erfahrung dieser Tage lese ich im Tagebuch von Etty Hillesum. Die niederländische jüdische Slawistik- und Psychologie-Studentin begann im März 1941 während des Krieges und der Judenverfolgung mit Tagebuchaufzeichnungen, die sie bis zu ihrer Deportation fortführte; zwei Jahre später starb sie in Auschwitz. Am 12. Juli 1942 schrieb sie:
Sonntagmorgengebet
„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorüberzogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung.
Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vorneherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir helfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.“
Etty Hillesum, Das denkende Herz
Die Tagebücher 1941-1945, Hrg. J.G. Gaarlandt, Rowohlt Verlag
Weih-nachten das ganze Jahr
Was hilft, den Ärger und die Wut in sich selbst nicht zu Hass werden zu lassen? Oder aber sich abzuschotten in einer gefühllosen Gleichgültigkeit? Was hilft, sich nicht zu verschließen angesichts unberechenbarer Abgründe im Menschen? Was hilft, nicht zu vereinsamen aus Angst vor der Konfrontation mit den anderen? Was hilft, die Zuversicht zu bewahren? Was hilft, den Mut aufzubringen für jeden weiteren Schritt? Etty Hillesum sagt, es komme darauf an, ein Stück von Gott in uns selbst zu retten. Das ist die Botschaft der Weihnacht: Gottes Wort ist Fleisch geworden. In alle Verderblichkeit unseres Lebens hinein ist das Heil zugesagt. Doch müssen wir Gott dabei helfen, dass es immer neu Wirklichkeit wird, wir müssen Gottes „Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen“ gegen alle Versuchung des innerlich Festwerdens und der Gewalt. Es geschieht, wo wir das Herz öffnen, diesen Raum, in dem die Barmherzigkeit wohnt. Dafür braucht es eine gewisse Übung, schreibt Etty Hillesum. Wir sind verletzlich, wenn wir unser Herz öffnen. Auch in uns selbst braucht es Übung, bis die Gewohnheit des Auge-für-Auge und Zahn-um-Zahn überwunden ist, und der Versöhnung mehr zugetraut werden kann als der Rache. Vielleicht hilft es, Weihnachten nicht nur am 25. Dezember zu feiern, sondern immer wieder neu. Mutig und entschlossen, neue Wege zu gehen.
Christoph Kunz