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Ein deutsches Gefängnis im 21. Jahrhundert

21. April 2021

Ein moderner Justizvollzug ist ein humaner Vollzug. Er steht für ein Verständnis von Resozialisierung, das Verurteilte nicht bloß als Objekte der Vollzugsgestaltung betrachtet, sondern sie ernst und in Verantwortung nimmt – und ihnen eine Stimme gibt. Solch ein Justizvollzug steht statt für eine geschlossene, für eine aufgeschlossene Gesellschaft, die sich für ihr Strafen interessiert und für alle ihre Einzelgruppen Engagement zeigt. Ein Buch dazu gibt aus neuer Perspektive und mit zahlreichen Beispielen den Blick frei auf das Verständnis eines hoffentlich humanen Justizvollzuges.

Herausgeber
Ulfrid Kleinert, Lydia Hartwig 
Ein deutsches Gefängnis
im 21. Jahrhundert

Redakteure der unzensierten Dresdner Gefangenenzeitung
„Der Riegel“ berichten.
Mit Fotos von Lydia Hartwig
NOTschriften Verlag 2021
12,90 Euro

 

Das Buch versammelt persönliche Schilderungen, Alltagsreportagen und satirisch-poetische Texte, die seit 2001 in der Gefangenenzeitung „Der Riegel“ erschienen sind. Gemeinsam mit Gefangenen und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen der Justizvollzugsanstalt Dresden erscheinen darin ungebändigte, unverstellte und kritische Texte. Texte von teils großer poetischer Ausdruckskraft. Sie spiegeln den Lebensrhythmus des Gefängnislebens. Sie schildern Erinnerungen an das Leben vor der Inhaftierung und sie formulieren Wünsche und Hoffnungen für die Zeit danach. Sie sprechen davon, wie sich der Verlust der Freiheit anfühlt und wie schwierig es sein kann, später mit der wiedererlangten Freiheit umzugehen. Die zahlreichen Schilderungen von Ereignissen, die aus dem Alltag herausragen und die Gefängnismauern durchlässig machen, wie Konzertbesuche, Workshops, Ausflüge und Sportfeste, lassen nicht nur erahnen, welche Schlüsselrolle dem wichtigen Einsatz der ehrenamtlichen HelferInnen, der Fachdienste und der Seelsorge zukommt, sondern auch, wie wichtig ein familienorientierter Vollzug ist.

Was möglich wird, wenn Gefangene und MitarbeiterInnen gemeinsam gestalterisch wirken und wenn Kommunikation funktioniert, auch davon legt das Buch Zeugnis ab. Schlägt man es auf einer beliebigen Seite auf, erhält man einen authentischen Einblick in die realen Lebenswelten der Gefangenen und zugleich einen greifbaren Eindruck davon, wie dringlich die Anliegen einer humanen Vollzugspraxis sind. Dazu zählen nicht nur der Ausbau der Suchttherapie-Stationen, die Stärkung von Präventions- und Deradikalisierungsprogrammen und die Erhöhung der Beschäftigungs- und Lernangebote, sondern auch die Förderung der kriminologischen Forschung in Sachsen.

Aufgabe einer humanen Vollzugpolitik ist es, diese Anliegen zu fördern und die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf die von ihr Bestraften zu lenken – so wie es dieses Buch in vorbildlicher Weise tut. In einem Gedicht, das sich im letzten Kapitel des Buchs findet, denkt ein Gefangener unter der Überschrift „Warum“ über sich und seine Situation nach: Warum bin ich unfähig zu reden? Weil mir nie jemand zugehört hat… Ich verstehe diesen Wunsch nicht nur nach jemandem der zuhört, sondern auch als Aufforderung und Einladung an die Gesellschaft sich zu beteiligen. Beteiligen an der Entwicklung einer Einsicht der Verurteilten in eigenes Fehlverhalten. Beteiligen auf dem Weg, dieses Verhalten zu verändern. Beteiligen an der Entwicklung einer tragfähigen Perspektive nach der Haft. In diesem Sinne ist das Buch eine Einladung zuzuhören und vielleicht auch zum persönlichen Engagement.

Katja Meier | Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung im Freistaat Sachsen

Ulfrid Kleinert ist 1941 in Dresden geboren und lebt seit 1991 in Radebeul. Nach Studium in Wuppertal, Mainz, Tübingen und Zürich war er Vikar an der Marburger Elisabethkirche, Studienleiter im Evangelischen Studienwerk Villigst, Prof. für Diakoniewissenschaften und Prorektor am Rauhen Haus in Hamburg und Gründungsrektor der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden. Seit 1999 ist er Vorsitzender des Anstaltsbeirats der JVA Dresden und des HAMMER WEG e.V. Das Rowohltbändchen über Gefängnisseelsorge in den 1970er Jahren mit dem Titel „Seelsorger oder Bewacher“ stammt von ihm.

 

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