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Ein „Corona-Gedenktag“ – oder brauchen wir zwei?

25. Januar 2021

Im Januar 2021 machen die Westfälischen Nachrichten den Vorschlag, den Buß- und Bettag „im Gedenken an die Corona-Opfer und als Symbol der Anerkennung für die vorbildlich gegen die Pandemie ankämpfenden Menschen in medizinischen und pflegerischen Berufen neu zum Leben zu erwecken.“ Aktuell wird Bezug genommen auf Äußerungen des Münsteraner Bischofs Felix Genn und des katholischen Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann, die für eine Kultur des Gedenkens werben. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Deutsche Bischofskonferenz haben bereits derartige Vorschläge gemacht. Bei aller Sympathie für den Gedanken, sensibel zu bleiben für Leid und Tod so vieler Menschen, stellt sich mir die Frage, ob damit nicht ausgeblendet wird, welches Leid die gegen die Epidemie ergriffenen Maßnahmen, die doch lebensfreundlich sein sollen, bisher verursacht haben und noch lange verursachen werden.

Die provokante Überschrift „Ein Corona-Gedenktag – oder brauchen wir zwei?“ will den Blick weiten und ist nicht nur ironisch gemeint, denn diese Krise von biblischen Ausmaßen bedarf mit Sicherheit des Innehaltens derer, die sie durchlitten haben. Reicht es also, wenn von kirchlicher Seite die Leidenden begleitet und die Verstorbenen gewürdigt werden, oder müsste Kirche nicht auch denjenigen, die in dieser Krise kein Gehör finden, eine Stimme verleihen?

Blasse Haltung der Kirche(n)

Anfang Oktober 2020 erscheint K-Punkt Spezial. Das Magazin der Kommende Dortmund, also des Sozialinstituts der Erzdiözese Paderborn, mit einem nachdenklichen Artikel über die Rolle der Kirchen in Zeiten von Corona, überschrieben mit: „Kirche in der Corona-Krise – kein systemrelevanter Akteur?“ Kritisiert wird, dass, zumindest in der Öffentlichkeit, das Engagement der Kirchen merkwürdig blass geblieben sei im Hinblick auf diejenigen, die besonders unter der Krise zu leiden hätten, namentlich Menschen in Pflegeheimen, Pflegekräfte, Obdachlose, Menschen auf der Flucht, Alleinstehende, Eltern von kleinen Kindern sowie von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit Betroffene. Politik und Gesellschaft hätten die Kirchen überhaupt nicht als wichtigen gesellschaftlichen Akteur in den Blick genommen, sie würden wie gelähmt wirken, „besorgt, den eigenen religiösen Betrieb zu sichern“. An dieser Wahrnehmung hat sich meines Erachtens im Advent und über Weihnachten, unter den Bedingungen von erst „weichem“, dann „hartem Lockdown“, nichts geändert. Was ist mit dem Anspruch der Kirche, für diejenigen da zu sein, die übersehen werden und durch die Netze der Unterstützung fallen, so fragt Andreas Fisch, der Autor. „Für die Wahrung der Menschlichkeit wären die Kirchen als Lobby für die Leidenden ´systemrelevant´, zumindest ´menschenrelevant´.“ Um der Menschlichkeit willen plädiert er dafür, dass „das übersehene Leid von Menschen sichtbar und vernehmbar wird“, und zwar durch die großen und kleinen kirchlichen caritativen Organisationen als Akteurinnen.

Das ist die Frage, die sich stellt, und ich denke, nicht nur ich stelle sie mir: wie sollte kirchliches Handeln aussehen angesichts einer Krise, die das Leben eines Großteils der Menschen auf dieser Erde beeinträchtigt? Was nimmt „die Kirche“ wahr, und wovor verschließt sie die Augen? Woran liegt es, dass sich der Eindruck aufdrängt, Kirche käme nur als potentieller Herd von „Superspreader-Events“ in der gesellschaftlichen Debatte vor, als „unsicherer Kantonist“, den man von Regierungsseite erzieherischen und notfalls polizeilichen Maßnahmen unterziehen muss? Hat Kirche, haben wir Christen nichts zu sagen? Ketzerisch gefragt: Findet unsere Empathie für die „Mühseligen und Beladenen“ ihre Begrenzung durch (blinden) Gehorsam für Zwangsmaßnahmen, und wenn ja, woran liegt das? Trauen wir uns kein eigenes Urteil in dieser komplexen Gemengelage zu? Noch einmal: warum schaut von kirchlicher Seite (fast) niemand genauer hin? Genauer hinschauen: das ist die Frage nach den Quellen für unsere Urteilsbildung, die Suche nach allen Quellen und die kritische Würdigung der zur Verfügung stehenden Quellen.

Ungleichheit arm und reich

Worum geht es mir, wenn ich so pathetisch darauf hinweise, hier würde auch von kirchlich-christlicher Seite Entscheidendes ausgeblendet oder ignoriert? Mir ist es schlichtweg ein Rätsel, warum Abwägung kaum eine Rolle zu spielen scheint. Es muss doch abgewogen werden zwischen den Gefahren und Auswirkungen der Erkrankung an Covid-19 und den Gefahren und Auswirkungen der gegen diese Erkrankung ergriffenen Maßnahmen! Am brutalsten und damit am einleuchtendsten lässt sich die angesprochene Widersprüchlichkeit aufzeigen, wenn man die globale Ungleichheit zwischen Arm und Reich in den Blick nimmt. Das Bündnis „Entwicklung Hilft“, dem auch Misereor und Brot für die Welt angehören, veröffentlicht am 1. Dezember 2020 ein Positionspapier zu den Corona-Herausforderungen weltweit, in dem es die weltweite Verschärfung der sozialen Ungleichheit durch die Pandemie so beschreibt:

„Gravierend sind die Auswirkungen der Pandemie vor allem für Menschen, die schon vor der Coronakrise in prekären Verhältnissen gelebt haben, häufig Frauen und Mädchen, informell Beschäftigte in Landwirtschaft und Textilindustrie, Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen, MigrantInnen und BewohnerInnen informeller Siedlungen. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) haben allein im Mai 2020 1,6 Milliarden Menschen im informellen Sektor ihr Einkommen wegen der Lockdowns verloren. 70 Prozent der Weltbevölkerung leben ohne oder nur mit unzureichender sozialer Absicherung. Millionen Menschen können ihre Familien nicht mehr versorgen, Menschen hungern, Kinder können nicht mehr am Schulunterricht teilnehmen, die Wirtschaft bricht dramatisch ein, Nahrungsmittelpreise steigen und Gesundheitssysteme sind überfordert. Wesentliche medizinische Leistungen, wie die gemeindenahe Basisgesundheitsversorgung oder Langzeitbehandlungen von Tuberkulose, HIV und chronischen Krankheiten, sind laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) längst stark eingeschränkt.

Die UN schätzen auf der Grundlage vorläufiger Wirtschaftsdaten, dass im Jahr 2020 zusätzlich 80 bis 130 Millionen Menschen von Unterernährung bzw. Hunger betroffen sind. 66 Millionen Kinder sollen von extremer Armut bedroht sein. Im Mai 2020 konnten nach Angaben der UNESCO 1,5 Milliarden SchülerInnen keine Schule besuchen. Es steht zu befürchten, dass Kinder aus ärmeren Familien, und insbesondere Mädchen, nie mehr in die Schule zurückkehren und damit den Anschluss an Bildung endgültig verlieren werden. Zudem sind Mädchen und Frauen auch gesundheitlich besonders gefährdet: Weltweit werden sie vermehrt Opfer häuslicher Gewalt, außerdem verschlechtert sich vielerorts die Versorgung im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit dramatisch. Dies hat zu einem starken Anstieg an ungeplanten Schwangerschaften auch unter Teenagern geführt.“

Bündnis Entwicklung Hilft

 

Zahlen zum Vergleich

Die zitierte Schätzung der UN, was die Zahl der Hungernden betrifft, bezieht sich wohlgemerkt auf zusätzlich eintretende Fälle. Jens Berger schreibt dazu in den Nachdenkseiten:

„Zwei Drittel davon entfallen auf den afrikanischen Kontinent oder um genauer zu sein auf das Afrika südlich der Sahara. Diese Zahlen stehen in krassem Gegensatz zu den statistischen Daten zur Pandemie. So kommt das gesamte Sub-Sahara-Afrika auf weniger als 33.000 Menschen, die bis jetzt (erg.: 3. Dezember 2020) an oder mit Covid-19 verstorben sind. Zwei Drittel der Toten entfallen übrigens auf das vergleichsweise entwickelte Südafrika. Im gleichen Zeitraum starben auf dem Kontinent rund sechs Millionen Kinder an Unterernährung und rund 300.000 Kinder an Malaria. Verglichen mit diesen epischen Bedrohungen und regionalen Todbringern wie HIV, Ruhr und Tuberkulose stellt Covid-19 in Afrika in der Tat ein marginales Randproblem dar. Doch hier reden wir von der Krankheit und nicht von der politischen Reaktion darauf. Grund für diese Reaktionen war eine „Horrorprognose“ der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem März. Damals sagte die WHO für den Kontinent „unkontrollierbare Infektionsketten, Millionen Tote und einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems“ voraus und forderte die Regierungen mit Nachdruck zu Abwehrmaßnahmen auf. Die wurden getroffen. Länder wie Simbabwe oder Kenia verhängten harte Lockdowns, die Folgen waren verheerend.

Um dies als Europäer zu verstehen, lohnt ein kleiner Exkurs über die afrikanischen Volkswirtschaften. Etwa drei Viertel der Werktätigen in Sub-Sahara-Afrika gehen einer sogenannten informellen Arbeit nach. Sie verdingen sich als Kleinbauern in der Dorfgemeinschaft, stellen selbstständig Güter her, bieten kleine Dienstleistungen an, transportieren Güter oder verkaufen Waren auf lokalen Märkten oder am Straßenrand. Es ist sicher überflüssig zu erwähnen, dass diese informellen Jobs keine soziale Absicherung haben. Sobald der Wirtschaftskreislauf durch Ausgangssperren, Kontakt- und Reiseverbote und Verbote von Märkten unterbrochen wird, stehen diese Menschen vor dem Nichts. Und so kam es, wie es kommen musste.“

Jens Berger Nachdenkseiten

[…]

Massive Folgen

Als Zwischenbilanz möchte ich festhalten, dass ich anhand der referierten Fakten und Prognosen deutlich machen möchte, welche zerstörerischen und jedes Maß sprengenden Folgen sogenannte Lockdowns haben können, also Aussperrungen, Arbeitsverbote, Ausgangssperren, Reisebeschränkungen etc.. In Afrika treten die Auswirkungen laut den von mir benutzten Quellen offen zutage, die Tatsachen springen einen ja geradezu an! Es gibt diese Quellen, sie sind jedem zugänglich, auch unseren KirchenfunktionärInnen, und sie sind, wie ich finde, unverdächtig, die in ihnen verbreiteten Informationen zu verzerren oder selektiv aufzubereiten. In Lateinamerika oder Südasien stellt sich die Lage anders dar – die Gewichtung der Kollateralschäden durch „Lockdown-Maßnahmen“ fällt womöglich nicht so eindeutig aus. Doch wie sieht es in den überalterten Bevölkerungen der Länder des entwickelten Nordens aus, wie können wir in Deutschland die Folgen der COVID-19-Epidemie gegen die Folgen der Eindämmungsmaßnahmen abschätzen? Schließlich gehören wir von der Altersstruktur her zu den Ländern, in denen eine echte Gefährdung für einen erheblichen Teil der BürgerInnen besteht!

Auch in unseren Breiten sind die potentiell und faktisch schädlichen Folgen der „Corona-Maßnahmen“, insbesondere der sogenannten Lockdowns, offensichtlich und werden auch kaum bestritten, weil gesunder Menschenverstand und Mitgefühl in der Regel ausreichen, um sich davon eine Vorstellung zu machen. Schauen wir wieder auf die heranwachsende Generation: „Eine Politik, die die Corona-Pandemie in den Griff bekommen will, ohne Kinder und Jugendliche angemessen zu beachten, gefährdet die Zukunftschancen einer ganzen Generation“, sagt der Präsident des Familienbundes der deutschen Katholiken, Ulrich Hoffmann, am 5. Januar 2021 mit Blick auf wiederholte oder langanhaltende Kita- und Schulschließungen und warnt vor dem Entstehen einer „Lost Generation“. Ein menschenwürdiges Aufwachsen sei für Kinder und Jugendliche gleichbedeutend mit der Chance zu lernen, mit dem Recht auf Bildung und dem Leben sozialer Beziehungen. Weiter betont Hoffmann, wer Kitas und Schulen schließe, müsse auch klare und akzeptable Alternativen für Kinder, Jugendliche und Eltern formulieren und umsetzen […]

Diese Antworten bleibe die Politik seit Beginn des ersten „Lockdown“ vor nun fast einem Jahr schuldig, berichtet Vatican News. Und der bereits zitierte Prof. Klundt betont: In der reichen Bundesrepublik Deutschland wurde für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des sogenannten „Bildungs- und Teilhabepakets“ ab Mitte März 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt – dies ist übrigens seit Mitte Dezember 2020 abermals der Fall. Auch hier waren hunderttausende von Schülerinnen und Schülern mangels digitaler Mittel (wie zum Beispiel Zugang zu einem internetfähigen Computer in der Wohnung) vom sogenannten Homeschooling ausgeschlossen und so manche/r Lehrer/in klagte darüber, dass sie mit einigen Schulkindern keinerlei Kontakt herstellen konnten während des gesamten ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. […]

Keine Abwägung gegeneinander

Daran hapert es hierzulande und weltweit: Kosten und Nutzen der ergriffenen Maßnahmen werden nicht gegeneinander abgewogen – eine, wie ich meine, fundamentale Verletzung ethischer Standards für das Handeln demokratisch gewählter Regierungen. Kein Aufschrei, kein Protest, stattdessen stille Bewunderung für China und Häme für Schweden. „Lockdown“ ist außerhalb von Gefängnissen eine völlig neue Maßnahme, die erstmals von der chinesischen Führung in Wuhan eingesetzt und anschließend massiv im Westen propagiert wurde. Bis dahin wurde diese Maßnahme als unwissenschaftlich und schädlich angesehen und auch von der WHO abgelehnt. Es liegen bereits einige Studien vor, die fehlenden Nutzen und immensen Schaden durch „Lockdowns“ belegen. Nun wird dies auch von führenden Forschern der Universität Stanford, John A. Ioannidis und Jay Battacharya, nachgewiesen. Der Epidemiologe Ioannidis ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der Welt. Ihm zufolge richtet der von November über Weihnachten vorläufig bis Ende Januar fortgesetzte „Lockdown“ in vielen Ländern weiteren enormen Schaden an, ohne Einfluss auf das Infektionsgeschehen zu haben. Der Wissenschaftsjournalist Peter F. Mayer führt dazu aus:

„Aufgrund der potenziell gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Lockdown-Maßnahmen – darunter Hunger, Suchtentwicklungen, versäumte Impfungen, Zunahme von Nicht-COVID-Krankheiten durch nicht funktionierende Gesundheitsdienste, häusliche Gewalt, verringerte psychische Gesundheit und zunehmende Fälle von Selbstmorden sowie einer Vielzahl wirtschaftlicher Folgen mit gesundheitlichen Auswirkungen, sollte der Nutzen genauer bestimmt werden, statt ihn einfach zu behaupten, wie dies bisher geschah. Wir wissen, dass Gerichte zunehmend die Maßnahmen der Behörden aufheben, da entweder keine Unterlagen über den behaupteten Nutzen der Maßnahmen vorgelegt werden konnten oder diese einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhielten. (…) Zum Beispiel können Schulschließungen sehr schwerwiegende Schäden verursachen, die allein im Frühjahr auf ein Äquivalent von 5,5 Millionen Lebensjahren für Kinder in den USA geschätzt werden. (…) Bemerkenswert ist, dass Schweden zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts keine Grundschulen während des gesamten Jahres 2020 geschlossen hat. Es wurden keine Beweise für ansteckungshemmende Effekte von verpflichtenden Schulschließungen gefunden.“ 

Peter F. Mayer

 

Risikogruppen nicht geschützt

England, Frankreich, Deutschland, Iran, Italien, Niederlande, Spanien und die USA mit ihren „Lockdowns“, Schul- und Betriebsschließungen, sowie den Ausgangssperren und Hausarrest haben nicht mehr erreicht als Schweden und Südkorea, so die Quintessenz der Ioannidis-Studie. Der Grund dafür kann dann ja wohl nur sein, dass die Eindämmungsmaßnahmen nicht ausreichend oder auch gar nicht zum Schutz der besonders gefährdeten Menschen beitragen. Das individuelle Risiko, bei einer Infektion an Covid-19 zu sterben, ist für über 80 jährige rund 10.000 Mal so groß wie bei unter 60 jährigen! Eine im Oktober 2020 als Great Barrington Declaration gestartete Kampagne wendet sich vehement gegen „Lockdown-Maßnahmen“, weil diese kurz- und langfristig verheerende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hätten, und schlägt stattdessen das Konzept der Focused Protection vor. Über 40.000 ÄrztInnen, 13.000 MedizinwissenschaftlerInnen und 700.000 BürgerInnen weltweit haben diesen Appell bereits unterzeichnet. Vergleichbares versuchen im deutschsprachigen Raum die Ärzte für Aufklärung mit ihrem offenen Brief vom November 2020. Dr. David Nabarro, der WHO-Sondergesandte im Kampf gegen COVID-19, spricht sich für einen Mittelweg zwischen Lockdown und Herdenimmunität aus und rät damit von ersterem ab! […]

Ein Thesenpapier einer Wissenschaftlergruppe rund um das ehemalige Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung, Matthias Schrappe, bringt es auf den Punkt: „Es besteht die paradoxe Situation, dass eine mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbundene Lockdown-Politik durchgesetzt wird, ohne andere Optionen in Betracht zu ziehen und über einen dringend notwendigen Strategiewechsel überhaupt nur nachzudenken, obwohl die am stärksten Betroffenen, die höheren Altersgruppen und Pflegeheimbewohner/Innen, durch einen Lockdown nicht geschützt werden.“ Vieles deutet immer mehr darauf hin, dass allein schon das mit dem ersten „Lockdown“ angerichtete Leid ein Ausmaß erreichen könnte, das den Nutzen, gemessen an den womöglich geretteten Menschenleben, mindestens auf lange Sicht übersteigen wird. Da wären etwa die in großem Stil aufgeschobenen Operationen, um Kapazitäten für Corona-Patienten freizuhalten, die gar nicht in der vorhergesagten Größenordnung in die Kliniken drängten. Oder die Sterbenden in den Alten- und Pflegeheimen, die ihre letzten Wochen, Tage und Stunden ohne ihre Angehörigen verbringen mussten. Dazu kommen Hunderttausende Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder Lohneinbußen hinnehmen mussten, zahllose Soloselbstständige, Kulturschaffende und Kleinunternehmer, die vor dem Ruin stehen. Sie alle ließ die Bundesregierung praktisch ins offene Messer laufen, weil sie die möglichen Folgeschäden ihrer Politik schlicht nicht bedacht hat.

Ist der Lockdown richtig?

Und die westlichen Kirchen? Die halten sich bedeckt, so weit ich informiert bin. Anders sieht es in den Kirchen der Orthodoxie aus. Hier sind offene Kontroversen zu beobachten, die einer gesonderten Einordnung bedürfen. Bischof Franz-Josef Overbeck (der übrigens auch für Adveniat zuständig ist) publiziert am 26. November 2020 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen in der Deutschen Bischofskonferenz einen „sozialethischen Zwischenruf zu Corona“. Darin bekennt er sich klar zum „Lockdown“ im Frühjahr 2020 und führt weiter aus: „Mit dem Wissen von damals war das rigide Vorgehen richtig – genauso, wie es jetzt auch wieder richtig ist.“ Immerhin dringt er darauf, zwischen individuellen Freiheitsrechten und Sorge um das Gemeinwohl abzuwägen und warnt vor einer langfristigen Verschiebung der Gewaltenteilung. Auch benennt er das von den Maßnahmen verursachte Leid, dass es zu kompensieren gelte. Eine Abwägung der entstehenden Schäden, womöglich unter Bezugnahme auf Wissenschaft, wird nicht vorgenommen.
Spätestens jetzt, Ende Januar 2021, nachdem sich in den großen Medien immer mehr Kritik am Konzept des „Lockdowns“ regt , ist es an der Zeit, dass auch von kirchlicher Seite benannt wird, was sich zeigt, nämlich existenzbedrohende und traumatische Schädigungen, die Millionen von Menschen in unserem Land zugefügt werden, ohne dass sich ein nennenswerter Erfolg einstellt.

Im Gegenteil: der wirtschaftliche Schaden, der jetzt schon messbar ist, wird nicht nur Geld kosten, sondern Menschenleben in Form von verhinderter Entwicklung, physischer und psychischer Krankheit, Suizidalität, Verkürzung der Lebenserwartung. Müsste nicht die Kirche ihre Stimme erheben, auch auf die Gefahr hin, dass ihr vorgehalten werden könnte, sie habe die Berechtigung verspielt, sich für Opfer von Zwangsmaßnahmen einzusetzen? Müssten nicht die Christenmenschen das Wort „Solidarität“ dergestalt buchstabieren, dass endlich auch diejenigen in den Blick genommen werden, deren vorsätzliche Schädigung durch die Politik bislang billigend in Kauf genommen wird? Müssten wir nicht Solidarität mit denjenigen, die schwer an Covid-19 erkranken, anders verstehen, als es derzeit propagiert wird? […]

Welche Antwort haben die Kirchen auf diese ethische Herausforderung? Einzelne Hilfswerke und Verbände scheinen offen zu sein für eine kontroverse Diskussion, doch was sagen die Führungspersonen? Was ist nötig, bevor über Gedenktage diskutiert wird? Gesamtes Dokument mit Fußnoten lesen...

Wolfgang Wandzioch | JVK Fröndenberg, JVA Hamm

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