parallax background

Vom Knast direkt in den Dschihad ziehen?

21. Juli 2019

Die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Islamismus. Niederschlag hat das in zahlreichen Print- und Onlinepublikationen gefunden, mit Titeln wie „Generation Allah“, „Salafismus und Dschihadismus in Deutschland“ oder jüngst „Zwei Schwestern – Im Bann des Dschihad“ über die Geschichte zweier Jugendlicher, die, zur Überraschung ihres sozialen Umfeldes, eines Tages von zuhause ausreißen, um für den IS zu kämpfen. Im Gefängnis treffen Verurteilte Terroristen auf Kleinkriminelle, Hochideologisierte auf Haltsuche. Können Gefängnisse ein Nährboden für eine Hinwendung zum Islamismus sein? Welche Akteure sind wichtig für die Präventionsarbeit im Vollzug? Braucht es sozialpädagogische und seelsorgerliche Fähigkeiten?

An diese Zielgruppe richtete sich die Veranstaltung, die in Köln stattfand. Unter der Überschrift „Vom Knast in den Dschihad? – Radikalisierung und Prävention“ diskutierten Fachleute aus Justiz, muslimischer Seelsorge, Pädagogik und Psychologie darüber, ob deutsche Gefängnisse ein Nährboden für die Hinwendung zum radikalen Islam bis hin zum Terror sein können. Daneben ging es darum zu reflektieren, welche Akteure für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit im Vollzug wichtig sind und welche Fähigkeiten es braucht, um erfolgreich zu arbeiten.

Dr. Jens Borchert, Professor für Soziale Arbeit, Medien und Kultur an der Hochschule Merseburg, richtete zu Beginn der Diskussion den Blick auf die problematische Lebenswelt hinter Gittern. Freiheitsentzug sei immer auch mit einem erheblichen Autonomieverlust und Gefühlen der Desorientierung für die inhaftierte Person verbunden. Die bisherige Identität werde erschüttert, Identitätsverlust drohe. Daher sei es nicht verwunderlich, dass die Subkulturen im Gefängnis eine identitätsstiftende Bedeutung für die Betroffenen gewönnen. Religiöse Sinnstiftungsangebote lieferten Bausteine für eine sozialkulturelle Ersatzidentität. Die religiösen Identifikationsangebote salafistischer Mithäftlinge böten eine Gegenwelt zum Gefängnis und zur deutschen Gesellschaft. Attraktiv seien sie auch deshalb, weil sie moralische Entlastung versprächen, indem sie die Schuldfrage umkehrten. Nicht die Geschädigten der begangenen Verbrechen seien die Opfer, sondern die muslimischen Täter selbst, weil sie von der Mehrheitsgesellschaft systematisch ausgegrenzt und verfolgt würden. Borchert appellierte an die Gefängnisse und deren zivilgesellschaftliche Kooperationspartner, das Zeitfenster dieser Identitätsfragilität konstruktiv zu nutzen. Gefängnisse seien auch Schulen des Lebens, die in der Verantwortung stünden, die Gefangenen anzuleiten, mit Kopf, Herz und Hand das Leben zu bewältigen.

Der Iman Mustafa Cimsit hat über sechs Jahre als muslimischer Gefängnisseelsorger in der JVA Frankfurt-Preungesheim gearbeitet. Auch er stellt eine Verunsicherung bei den Gefangenen fest. Neu Inhaftierte stellten sich häufig die Frage: „Wie soll und kann ich meinen Glauben im Gefängnis leben? Sind die religiösen Angebote der Anstalt sicher, nehmen Radikale an den muslimischen Ritualen und seelsorgerlichen Gesprächen teil und wenn ja, warum?“ Außerdem gebe es in den Anstalten immer wieder charismatisch auftretende Gefangene aus der salafistischen Szene, die es verstünden, aus der momentanen Orientierungskrise der Neuankömmlinge Kapital zu schlagen. In dieser Gemengelage sei es wichtig, dass es in den Gefängnissen religiöse Autoritäten gebe: Muslimische Seelsorger, die in der Lage seien, die Strategien der Islamisten, den Koran willkürlich als ideologischen Steinbruch für ihre menschenfeindlichen Absichten zu missbrauchen, aufzudecken. Den muslimischen Gefangenen werde von salafistischen Meinungsführern weisgemacht, sie seien nur deshalb im Gefängnis, weil sie Muslime seien. Eine Rolle muslimischer Geistlicher bestehe unter anderem darin, diese ebenso perfide wie verlockende Erzählung zu entlarven. Sie müssten die Augen der Gefangenen für die Realität öffnen. Er, Cimsit, sage daher seinen Gefangenen regelmäßig: „Schau her, ich sitze als gläubiger Muslim auf der Seite der Lösung, während du auf der Seite des Problems sitzt.“

Dr. Abdelmalek Hibaoui, Juniorprofessor für Islamische Praktische Theologie, gibt zu bedenken, dass die islamische Seelsorge in Deutschland noch in den Kinderschuhen stecke. Obwohl ein hoher Bedarf in deutschen Gefängnissen bestehe, gebe es dort nur wenige echte muslimische Seelsorger. Ein Iman sei nicht automatisch ein Seelsorger. Denn Seelsorge sei mehr als das Predigen theologischer Inhalte. Vielmehr müssten die Geistlichen in der Lage sein, Gruppengespräche durchzuführen und individuelle seelsorgerliche Betreuungsaufgaben zu übernehmen. Von ganzheitlicher islamischer Seelsorge könne durchaus eine präventive Wirkung ausgehen. Religiöse Bildung durch die islamische Seelsorge sei nötig, denn sie immunisiere gewissermaßen gegenüber der Propaganda der Islamisten in den Gefängnissen.

Der Psychologe Ahmad Mansour warnte davor, mögliche Problemlösungsszenarien einzig auf religiös ausgerichtete Interventionen zu verkürzen, denn die Ursachen für Radikalisierungsprozesse zeigten sich auf mehreren Ebenen. Da sei erstens die psychologische Ebene, die es intensiv in den Blick zu nehmen gelte. Denn die Radikalisierung nehme ihren Anfang häufig in einer individuellen persönlichen Krise und löse eine Suche nach Orientierung, Halt und klaren Regeln aus. Bei instabilen Jugendlichen, die sich von extremistischen Positionen angezogen fühlen, lasse sich nicht selten ein problematisches Verhältnis zum Vater erkennen, sei es, dass dieser in der Familie massiv an Autorität verloren habe oder gänzlich fehlen würde. An einem bestimmten Punkt in ihrem Leben entwickelten die Betroffenen eine spezifische Gefühlslage, in der sie sagen würden: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.“ Zugleich öffne sich ein Zeitfenster, während dem die destabilisierten jungen Leute anfällig und empfänglich für radikale Lösungen und damit extremistische Propaganda seien. Im Vordergrund stehe weniger die Suche nach religiösen Antworten, als vielmehr die Suche nach psychischer Entlastung. Insofern sollte, so Ahmad Mansour, uns Fachleute Folgendes interessieren:

  1. Welche gesellschaftlichen Akteure sind in der Lage, solche individuellen Gefährdungslagen rechtzeitig zu erkennen?
  2. Und zweitens, wer ist in der Lage, ein passendes Angebot für die Gefährdeten zu machen? Bedauerlicherweise seien die radikalen Anwerber viel besser aufgestellt als die staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Akteure. Nicht nur, dass sie genau erkennen würden, wen sie wann ansprechen können. Es gelinge ihnen auch, Beziehungen aufzubauen und emotionale Bindungen herzustellen. Die zweite zu berücksichtigende Ebene sei die soziologische: Die gefährdeten Menschen befänden sich auf der Suche nach einer neuen, starken und sichtbaren sozialen Identität. Eine Gruppenidentität, die radikale Abgrenzung von den Eltern und von der Mehrheitsgesellschaft ermögliche. Verlockend seien insbesondere Versprechungen, die die eigene Persönlichkeit durch die Teilhabe an einem höheren Ziel aufwerten würden.
  3. Die dritte Ebene sei die theologisch-ideologische Ebene. Teil des Problems sei nämlich ein weit verbreitetes konservatives, patriarchalisches und autoritäres Islamverständnis, das die sexuelle Selbstbestimmung und jegliche Religionskritik verbiete und damit so etwas wie einen Gegenentwurf zu einer Gesellschaft mündiger Bürger darstelle. Dieses integrations- und freiheitsfeindliche Religionsverständnis sei oftmals Teil der Sozialisation der Jugendlichen gewesen und bilde in der Krise eine Schwachstelle, die sich die islamistische Szene in den Gefängnissen zunutze mache.

Katja Grafweg, Leiterin der Justizvollzugsanstalt Remscheid problematisierte die in der Diskussion unterschwellig erhobene Forderung, das Gefängnis stehe aufgrund der Radikalisierungsgefahr in der Bringschuld, dass „mit Gefangenen muslimischen Glaubens … etwas komplett anderes passieren“ müsse. Das könne im Einzelfall erforderlich sein, aber in der Regel reagiere die Anstalt auf die Bedarfe und Probleme muslimischer Gefangener in gleicher Weise wie auf die von nicht-muslimischen Straftätern. Die Person und die Straftat stünden im Fokus der Vollzugsplanung. Das bedeute, Inhaftierten muslimischen Bekenntnisses werde – individuell abgestimmt – das gesamte Behandlungsangebot der Justizvollzugsanstalt – psychologischer Dienst, Sozialdienst, die Arbeits- und Ausbildungsbetriebe oder die Schule – zuteil.

Die eigentliche Schwierigkeit für das Gefängnis bestehe darin, zu erkennen, welcher Gefangene eine gefährliche Gesinnung aufweise und welcher nicht. Nun gebe es in den Anstalten in Nordrhein-Westfalen durchaus auch IS-Kämpfer, die aus den Kampfgebieten zurückgekehrt seien und die wegen islamistisch motivierter Verbrechen einsitzen würden. Diese Gruppe Gefangener zöge sich ihrer Erfahrung nach aber komplett zurück. Sie würden „in den Diskussionen über Radikalisierung überhaupt nicht auftauchen, auch nicht beim Seelsorger auftauchen, die einfach überhaupt gar nichts wollen.“ Dann gebe es eine zweite Gruppe Gefangener, bei denen es Hinweise darauf gebe, dass ihre Straftaten religiös motiviert waren. Eine dritte Gruppe nutze islamistisches Vokabular, weil sie um die provozierende und imagestärkende Wirkung wüssten. Meist stecke jedoch keine echte islamistische Gesinnung dahinter.

An dieser Stelle kämen die vier Islamwissenschaftler ins Spiel, die das Land NRW eingestellt habe, um das Fachpersonal der Anstalten darin zu schulen, bestimmte Verhaltensweisen muslimischer Gefangener besser einschätzen zu können. Dass sie beispielsweise lernen würden „bestimmte religiöse Verhaltensweisen nur als (einen Ausdruck einer, K.R.) fundamentalen Opposition einzustufen oder zu sagen: Oh, da steckt was ´hinter, wo wir mal genauer hinschauen müssen.“

Aus dem Publikum wurde schließlich die Frage laut, wie groß denn nun eigentlich das Problem religiöser Radikalisierung im Gefängnis sei und wie ihm konkret begegnet werden könne. Von Expertenseite war hierzu zu erfahren, dass in deutschen Gefängnissen aktuell etwa 130 bis 150 männliche Personen untergebracht seien, die Freiheitsstrafen wegen Verbrechen im islamistischen Kontext verbüßten. IS-Rückkehrerinnen würden bislang strafrechtlich nicht oder kaum belangt, was man durchaus kritisch hinterfragen müsse. Insgesamt lägen keine Zahlen vor, die Auskunft darüber geben könnten, wie viele Inhaftierte als „Gefährder“ eingestuft werden. Die Behörden tappen also bisher entweder im Dunkeln oder sie lassen sich nicht in die Karten schauen.

Etwas klarer gezeichnet wurde hingegen das Bild, was zu tun sei, um einer islamistischen Radikalisierung im Gefängnis erfolgreich zu begegnen. Ahmad Mansour sprach sich für eine dialogorientierte Präventionsarbeit aus, eine, die alternative Identitätsangebote vorhalte. Es komme vor allem darauf an, so Mansour, schneller und besser zu sein als die Salafisten. Die Verhinderung von Radikalisierungsprozessen dürfe dabei nicht auf die Schultern der islamischen Gefängnisseelsorger abgewälzt werden, auch weil sie einen anderen originären Auftrag hätten. Außerdem müssten die Behörden große Sorgfalt bei der Auswahl der Imane walten lasse, weil das Gefängnis ein sehr sensibler und verletzlicher Ort sei. Gefragt seien daher in erster Linie interne und externe Fachkräfte aus den Arbeitsfeldern Psychologie und Soziale Arbeit. Er plädierte dafür, Maßnahmen zu treffen, die gewährleisteten, dass die Zeit im Gefängnis sinnvoll zur Deradikalisierung und für die Prävention genutzt werde. Dies sei in jedem Falle nicht nur Erfolg versprechender, sondern auch wirtschaftlicher, als verdächtige Haftentlassene durch den Sicherheitsapparat jahrelang überwachen zu lassen.

Jens Borchert machte deutlich, dass er diese Position teile, wies aber darauf hin, dass der Vollzug in diesem Fall auch wesentlich besser finanziell ausgestattet werden müsse. Ohne einen besseren Personalschlüssel sei das ehrgeizige Ziel, Radikalisierungsprozesse zu verhindern und Ausstiegsprozesse zu begleiten, nicht hinreichend umsetzbar. Dem schloss sich Mustafa Cimsit an und ergänzte, dass andernfalls die Gefahr drohe, dass sich Gefängnisse zu Hochschulen der Islamisten entwickeln könnten. Effektive Präventionsarbeit gegen islamisch begründeten Extremismus dürfe, so Ahmad Mansour, keineswegs erst im Gefängnis ansetzen. Unsere multireligiöse Gesellschaft könne sich gegen religiöse Radikalisierung am besten dadurch schützen, dass sie einen allgemeinen Religionsunterricht etabliere. Einen, der Integration, Demokratie- und Menschenrechtsbildung fördert. Hingegen wäre ein staatlich geförderter Islamunterricht an öffentlichen Schulen kontraproduktiv. Im schlechtesten Fall wäre dies ein von den konservativen Islamverbänden verantworteter bekenntnisorientierter Religionsunterricht. Dies wäre eine ebenso gut gemeinte wie fatale Investition in das angestrebte friedliche Miteinander der unterschiedlichen Religionen und Lebensweisen.

Dr. Klaus Roggenthin | Geschäftsführer BAG-S

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert