Dorfkirche in Herzogenweiler bei Villingen im Schwarzwald-Baar Kreis.
Ein inhaftierter Jugendlicher wird positiv im Drogenscrenning getestet. Ein geringer Wert nur, aber: “Was mache ich nur, ich will doch mein Job im Knast behalten!“ Jeder sechste Test ist positiv im Gefängnis. Besonders häufig wurden Marihuana und Spice sowie verschreibungspflichtige Tabletten gefunden. 80 bis 90 % der Gefangenen hat Erfahrungen mit illegalen Drogen und Alkohol. „Nun lass mal die Kirche im Dorf”, tröstet ihn der Seelsorger. “Von einem positiven Test geht die Welt nicht unter. Du verhältst Dich doch ganz gut in letzter Zeit…“ Sagt der Gefangene verwundert: „Was bedeutet denn ‚die Kirche im Dorf lassen‘? Was soll das denn heißen?“
Es gibt dazu zwei halbwegs plausible Erklärungen. Die eine geht so: Der Ausdruck geht auf die Zeit zurück, in der die katholische Kirche noch viele Prozessionen auf dem Land durchführte. Dummerweise haben Dörfer aber die Eigenschaft, dass sie klein sind, und eine Prozession, die etwa von einem Ende des Dorfes zum anderen geht, wäre dann schnell zu Ende und macht nicht viel her. Und wenn aus der Umgebung auch noch genügend Gläubige dazu kommen, platzt das Dorf schnell aus allen Nähten. Also gab es Bestrebungen, die Prozessionen außerhalb der Dörfer auszutragen, so dass die Kirche – gemeint war also demnach nicht das Kirchhaus, sondern die Kirchengemeinde – sich aus dem Dorf heraus begeben musste. Das stieß jedoch auf Widerstand. Und viele meinten: Nein, die Kirche – das Kirchenleben – gehöre ins Dorf, und da soll man es doch belassen, auch wenn die Prozession dann eben kleiner ausfallen mag.
Das passt auch zur heutigen Bedeutung des Ausdrucks „Die Kirche im Dorf lassen“ im Sinne von: Lasst es uns nicht übertreiben, es geht auch eine Nummer kleiner.
Es gibt aber noch eine andere Erklärung, die führt den Ausdruck auf das späte Mittelalter zurück, wo der Ausdruck zum ersten Mal nachgewiesen ist, auch in Frankreich. Bis ins späte Mittelalter hinein wurden neue Siedlungen in enger Zusammenarbeit mit der Kirche gegründet. Die Kirche war im Dorf verwurzelt, die Kirche war Kristallisationskern neuer Siedlungen. Diese Dorfkirchen regierten anfangs auch über viele Stadtkirchen.
Beispiel im baden-ürttembergischen Ulm: Bevor das Ulmer Münster gebaut wurde, lag die für Ulm zuständige Pfarrkirche außerhalb der Stadt. Und verwaltet wurde sie auch nicht von Ulm, sondern vom Kloster Reichenau. Und so war es in vielen Städten, die Städte hatten über ihre Kirchen wenig zu sagen, denn die wurden organisatorisch von Pfarrkirchen auf dem Land verwaltet. Das änderte sich dann aber im späten Mittelalter, als die Kathedralen gebaut wurden. Da wurden die Stadtgemeinden nach und nach so groß und mächtig, dass sie sich nicht mehr von den Dorfpfarreien regieren lassen wollten und sich von ihnen abkapselten. Das wiederum passte natürlich den Dorfpfarreien nicht, denn die fürchteten natürlich, an Bedeutung zu verlieren, wenn sich die Städte alle von ihnen loslösten. Deshalb gaben sie die Parole aus: Man möge doch die Kirche im Dorf lassen, da, wo sie traditionell gewachsen ist. Der Vorteil dieser Erklärung ist: Sie passt ein bisschen besser zu den historischen Quellen. Der Nachteil ist: Der Bezug zur heutigen Verwendung dieses Ausdrucks ist weniger deutlich.
Gabor Paal | SWR 2, Einleitung/Fotos: Michael King