Fast 25 Jahre nach meiner vorzeitigen Pensionierung habe ich mich an die Überarbeitung meiner Papiere begeben und sie nur geringfügig verändert. Verwundert bin ich, wie sehr mich die Einzelheiten in meiner Zeit als Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Werl berührt und bewegt haben. In den letzten Wochen sind in meinen Träumen immer wieder Ereignisse aufgetaucht, die mich dazu bewogen haben, tiefer in diese zurückliegende Materie einzusteigen und mich noch einmal mit den Jahren im Knast auseinander zu setzen. Dankbar bin ich denen, die mich ermuntert haben, meine Erinnerungen aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Hier die Geschichte mit der Akte des Gefangenen Winfried P., die erfreulich begann und grausam endete.
Ab und zu wurde im Knast geheiratet. Winfried P., den ich seit den ersten Tagen im Knast und seiner Einweisung in die „Jungtäter-Abteilung“ kannte, hatte in der Freundin seiner früheren, verunglückten Frau, eine neue Liebe gefunden. Er lebte auf, nahm an Gruppen teil, ging zur Arbeit, beteiligte sich wach und frisch an einer Woche „Konzentrative Bewegungstherapie“ und schwärmte von der Zukunft mit seiner Frau. Die Trauung fand im Besuchsraum statt. Anschließend führte ich als Gefängnisseelsorger noch einen Sonderbesuch durch. Tags drauf sollte das junge Paar einen „Langzeitbesuch“ haben. Die Frau war zeitig da. Der Mann wurde von der Zelle gebracht. Da schellte mein Telefon. Der Leiter der Besuchsabteilung bat mich, ihm „die Akte des Inhaftierten Winfried P. mit dem genehmigten Langzeitbesuch“ zu bringen. Die sei nicht da. Von mehreren Stellen war ihm gesagt worden: die Akte liege wahrscheinlich bei mir; genau wüssten sie das aber nicht. – Die Akte war und blieb unauffindbar.
Die Suche nach der Akte
Zunächst ging ich zu den beiden, die vor Zorn, Enttäuschung, Ärger, Verbitterung und Hoffnung kaum ansprechbar waren. Dann begab ich mich auf die Suche nach der Akte und fragte alle, die an der Konferenz teilgenommen oder irgendwann mit dem Mann zu tun hatten. Letzte Auskunft: die muss „eigentlich“ beim ‚Chef’ sein; zu der Zeit der stellvertretende Anstaltsleiter. Der hatte zwar am Vortag etliche Sachen unterschrieben, wollte nicht ausschließen, dass auch der Langzeitbesuch für Winfried P. dabei war; doch die Akten habe er auf den „Bock“ gelegt, damit sie abgetragen würden. Mehr könne er dazu nicht sagen. Blieb nur noch der, der den Stapel Akten weggeholt und verteilt hatte. Der beteuerte, er habe ‚ganz sicher’ die Akte in das Fach gelegt, wo sie hingehörte. Das war nach 17 Uhr, als er eigentlich bereits Feierabend hatte. Gerade deswegen erinnerte er sich präzise. Als das Fach am selben Abend abgetragen wurde, war keine Akte Winfried. P. dabei.
Doch sogar Im Knast geschehen Wunder. Am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr wurde ich telefonisch unterrichtet: die Akte Winfried P. liege vor; der Langzeitbesuch könne stattfinden; ich solle mich bitte darum bemühen, die Frau zu bestellen. Keiner wusste, wo die Akte geblieben war. Niemand konnte sagen, von wo her sie aufgetaucht war. Die Frau war sofort bereit. Der Mann begegnete mir auf dem Weg zum Langzeitbesuch und sagte so dahin: „Kommen Sie nachher mal zu mir?“ Bevor ich ihn auf der Zelle aufsuchte, erkundigte ich mich, ob es am Vortag besondere Vorkommnisse gegeben habe. Nein; es sei alles ruhig und friedlich geblieben. Seltsam ruhig war Winfried P. auch, als ich auf der Zelle saß. So langsam hatte ich ihn noch nie Kaffee fertig machen erlebt, den er mir hinstellte, ohne mich gefragt zu haben, ob ich welchen wollte. Was war mit ihm?
Erste Auseinandersetzung ohne Fäuste
Zunächst bedankte er sich dafür, dass ich mich für ihn, seine Frau und den genehmigten Langzeitbesuch eingesetzt hatte. Ohne meine Bemühungen wäre die Akte noch lange verschwunden geblieben. Die Stunden mit seiner Frau seien schön gewesen. Doch ihm ging es mehr um die Ereignisse vom Vortag. Auf dem Weg vom Besuch, bei dem ich immer wieder aufgetaucht war, um die Vergeblichkeit meiner Bemühungen mitzuteilen, war auf der Abteilung kein Mensch zu sehen, obwohl Mittagszeit war. Mit einem Blick hatte er erfasst, dass keine Zellentür verschlossen war. Einige jedoch bewegten sich „verdächtig“. Ihm war klar: er wurde „erwartet“. Eine falsch zu deutende Bewegung, und die Türen würden aufspringen; aus jeder käme ein Beamter mit Gummiknüppel zum Vorschein, um ihm zu zeigen, was „Sache“ ist. Damit hatte er gerechnet; darauf hatte er sich eingestellt. Darum habe er seine zu Fäusten geballten Hände so tief in die Hosentaschen gepresst, wie er nur konnte, ließ sich zur Zelle bringen und gleich „Nachtverschluss“ vornehmen: zu seiner Sicherheit. Er rechnete damit, dass andernfalls ein Trupp ihn in der Zelle „heimsucht“, um ihm zu zeigen, „wo der Weg hier langgeht“. – Während er das erzählte, bebte er am ganzen Körper. Nach einer längeren Pause schaute er mich direkt an und sagte mit Tränen in den Augen: „Herr Pastor, das war die erste Auseinandersetzung, die ich nicht mit Fäusten beendet habe!
Ernst Lauven
Geboren 1933, seit 1961 im priesterlich-seelsorglichen Dienst des Erzbistums Paderborn in mehreren Gemeinden sowie in der Kur-, Krankenhaus- und Strafvollzugsseelsorge bis 1996. 1974 Beginn der pastoralpsychologischen Weiterbildung in Klinischer Seelsorge-Ausbildung (KSA), 1987 Anerkennung als Pastoralsupervisor DGfP/KSA. Seit 1999 Lehrsupervisor DGfP/KSA sowie Mitarbeit in den Pastoralkursen im Erzbistum Köln.
Von 1987 bis 1996 arbeitete er in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl. Er war Mitglied im ehemaligen Arbeitskreis kritischer Strafvollzug e.V. Lauven wohnt seit seinem Ruhestand 1996 in Köln.
Er wusste nicht, wie ihm geschah
Winfried P. erhielt einige Zeit später sogar Urlaub. Als er zu Hause ankam, war die Wohnung leer. In Panik fragte er in der Nachbarschaft, wo seine Frau sei. Er erfuhr, sie musste wegen einer Fehlgeburt ins Krankenhaus. Nach einem Besuch dort wollte er vor lauter Angst und Verzweiflung nicht allein sein. In der Nähe war eine Kneipe, die er von früher kannte. Vielleicht wären dort Bekannte, die sich seiner annehmen. Er hatte einiges getrunken, als sich eine Frau zu ihm setzte, die ihn, wie es schien, besser kannte als er sie. Nach einer Weile meinte die Frau, sie wolle ihn nach Hause bringen; es wäre Zeit für ihn. Damit war er einverstanden. In der Wohnung wurde die Frau aufdringlich, wogegen er sich wehrte. Sie soll gehen und ihn in Ruhe lassen. Er mache sich Sorgen und Gedanken um seine Frau, die nach einer Fehlgeburt im Krankenhaus liegt.
Er wusste nicht, wie ihm geschah: die Frau, die er nicht mal mit Namen kannte, fing an seine geliebte Frau als „Schlampe“ und „Hure“ zu beschimpfen. Was „die kann“, das „kann ich schon längst“. Er fing an zu schreien: sie soll endlich verschwinden. Das tat sie auch. Doch ehe er sich versah, stand sie nackt im Zimmer und wollte ihn ins Bett locken. Blind vor Wut und Entsetzen stürzte er sich auf die Frau und würgte sie solange, bis sie sich nicht mehr rührte. Als er wieder zu sich kam, wickelte er die Tote in einen Teppich, lud sie auf einen Einkaufswagen, den er gerade fand, und kippte sie in einen Fluss in der Nähe. Nach einem langen Gespräch und einer ähnlich langen Pause fragte ich ihn: „Was wollten Sie von der Frau? Wieso haben Sie sie mit nach Hause genommen?“ Kleinlaut antwortete er nach langem Schweigen: „Ich wollte, dass sie mich wie meine Mutter oder meine Sandra ins Bett bringt!“ Zur Zeitstrafe bekam er Lebenslänglich „LL“, hatte auch noch die SV (Sicherungsverwahrung) offen, deren Aussetzung widerrufen worden war. Nach einigen seltsamen Vorgängen in der JVA Werl, die meines Wissens nicht aufgeklärt wurden, wurde er „zu seinem Schutz“ in ein anderes Bundesland verlegt.
Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire
1 Rückmeldung
Ernst Lauven war mein Kollege von 1987 bis Anfang 1996 in der JVA Werl. Seine schriftlichen Erinnerungen habe ich gelesen. Was er über seine ersten Jahre schreibt, habe ich nicht miterlebt, kenne es aber aus seinen Erzählungen. Und die Ereignisse der späteren Jahre haben wir ja zusammen „durchgestanden“! Ich fand beim Lesen erschreckend, wie sehr manche Äußerungen doch immer noch passen, etwa, was Ernst Lauven am Anfang zum Thema „Wahrheit“ schreibt. Nach dem Inhalt und den Formulierungen vermute ich, dass die Erinnerungen z.T. ca. 1996 geschrieben worden sind.