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Mitten in der Stadt – ein anderer Blickwinkel

26. April 2019

Ich möchte Sie gewissermaßen an die Hand nehmen und zu den Menschen hinführen, die keine Damen und Herren sind. Zwischen Ihnen und uns liegen Welten – und trotzdem sind sie uns nahe. Männer und Frauen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, an den Rand gedrängt, gedrückt werden. Manche sind richtig draußen, ohne ein Dach über dem Kopf. Aber nicht nur Obdachlose, auch Bettler, Fixer, Gefangene, Aidskranke, Straßenmädchen, Stricher sind Außenseiter. Menschen am Rande – sagen wir in der Mitte. Mitten in der Stadt und im Dorf. Dabei sind wir selbst außenstehende Betrachter.

Beim Anblick eines ‚Penners’ schauen wir weg, als wäre er eine Beleidigung für unsere Augen. Wir sehen den Bettler auf dem Boden hocken. Er sieht uns von unten. Von Fuß bis Kopf. Auf die Perspektive kommt es an. Durch die Menschen am Rande habe ich einen anderen Blickwinkel bekommen. Auch auf mein eigenes Leben. Die Bettlerin hält mir meine Bedürftigkeit vor Augen. Der Straftäter zeigt mir meinen dunklen Bruder. Der Mörder führt mich hin zu meiner Leiche im Keller. Durch die Drogenabhängigen komme ich meiner Sucht auf die Spur. Auch ich habe das Todesurteil in der Tasche, sagen mir die Aidskranken. Die Obdachlosen zeigen mir, dass auch ich eigentlich oft bin, ohne festen Wohnsitz – nur auf der Durchreise. Die Menschen am Rande führen mir vor Augen, dass ich eng mit ihnen verwandt bin. Es sind meine Schwestern und Brüder.

Dominikanerkirche mit thyssenkrupp Testturm in der Rottweiler Innenstadt.

Hauptsache einwenig Wärme

Von den armen Schluckern habe ich gelernt, was mir im Leben alles erspart geblieben ist. Ich habe viel mehr Glück gehabt als jene Pechvögel, die schon von Kindesbeinen an auf der Verliererstraße waren. Ich denke an Herbert, unehelich geboren. Hin- und hergeschoben. Heim: rein und raus. Als seine Mutter ihn mit acht Jahren aus dem Heim holte, sagte sie zu ihm: “Jetzt hast du einen neuen Vater.“ Und was für einen! Er missbrauchte den Jungen, aber Herbert dachte: Dein Vater darf das. Er hat dich lieb. Später wurde Herbert Stricher: Stadtpark: rein und raus.

Ihn hat es oft angeekelt, wie die Freier um ein paar Euro feilschen. Herbert lebte eine Zeitlang sowohl mit einer Frau als mit einem Mann zusammen. Er wusste selbst wohl nicht, wo er eigentlich hingehört. „Ich habe alles genommen, was ich kriegen konnte. Hauptsache ein wenig Wärme.“ Als es Herbert ganz schlecht ging, gab er seinem besten Freund Geld, damit er ihm den Stoff für den ‚goldenen Schuss’ besorgt. Doch der Freund gab ihm eine lebensgefährliche Mischung, u.a. mit Strychnin und Rattengift. Als Herbert mit 46 Jahren an einer kaputten Leber starb, war das noch ein relativ gnädiger Tod im Vergleich zu den vielen Toden, die Herbert bis dahin gestorben war.

Manches Leben ist ein langes, langsames Sterben. Der ,lebenslängliche’ Max meint: „Du lebst und bist doch schon tot. Du stirbst jeden Tag und lebst weiter.“ Auch viele Suchtkranke sterben jeden Tag ein bisschen mehr. ‚Senf’, ein alter Fixer sagt: „Ich bin zu feige, mir einen Strick zu nehmen, und darum begehe ich Selbstmord auf Raten.“ Die letzte Rate ist oft auch eine Er-Lösung, die einzige Lösung von einem unlösbaren Problem. Länger Leben heißt vielfach auch länger leiden. „Wieso habt ihr mich wieder in dieses Scheiß Leben zurück geholt?“, schreit Doris den Rettungsarzt nach erneuter Überdosis an. Manche wurden jahrelang misshandelt oder sexuell missbraucht. Qualvolles Innenleben. Sie können nicht mehr lachen, nicht mehr weinen. Als wäre kein Leben mehr in ihnen.

Stadtkern mit Schwarzem Tor in der Stadt Rottweil in Baden-Württemberg.

Macht der Tod alle gleich?

Der Tod ist mehr als ein biologisches Phänomen, viel mehr als der Exitus. „Für uns bist du gestorben“, bekommt der kriminelle Sohn aus gutem Hause zu hören. – „Für mich bist du tot“, sagt der Vater, als seine Tochter sich als Lesbe outet. Es ist schwer, mit dem Todesurteil der eigenen Familie zu leben. Tödlich ist auch das Gefühl, von anderen abgeschrieben zu sein. Selbst der ‚hoffnungslose Fall’ braucht noch Menschen, die an ihn glauben. Gestorben wird nicht erst am Ende, sondern mitten im Leben. Ein Unfall, eine Krankheit, ein Schicksalsschlag ist bei vielen der Anfang von Ende. „Als mein Bruder tödlich verunglückt ist, da begannen meine Eltern zu sterben. Meine Mutter bekam Krebs und mein Vater Parkinson.“. Die Franzosen sagen: „Jeder Abschied ist ein kleiner Tod.“ Das haben wir alle wohl schon erfahren. Bei manchem Begräbnis tragen wir einen Teil des eigenen Lebens zu Grabe. „Ein Teil von mir stirbt mit dir.“ – „Seit deinem Tod bin ich nur noch die Hälfte.“

Der Tod macht alle gleich: Könige, Klofrauen, Millionäre, ‚Messis’, Päpste, ‚Penner’… Für den ‚Schnitter’ sind alle gleich. Endlich Gleichberechtigung! Dennoch ist Tod nicht gleich Tod. Es kommt schon auch darauf an, wie das Leben eines Menschen zu Ende geht. Liebevoll aus dem Leben geleitet zu werden und an der an der Hand eines anderen zu sterben ist ungleich anders als im Angesicht des Todes mit seiner Angst allein zu sein. Es ist wie Tag und Nacht, ob die Oma im Kreise ihrer Lieben sanft einschlummert oder ob ein Heroin-Abhängiger mit der Spritze im Arm und dem Kopf in der Kloschüssel tot aufgefunden wird. Der Abort, der letzte Sterbe-Ort. Auch ist es ein großer Unterschied, ob ein Mensch im Hospiz ‚gepflegt’ sein Leben beendet oder nachts auf einer Parkbank elend verendet. Der Tod, der große Gleichmacher macht immer noch große Unterschiede zwischen den Menschen in der Mitte und den Außenseitern am Rand. Sie bekommen die billigste Kiste und ein Flügelhemd, während andere in einer teuren Truhe noch nobel aussehen.

Nein, es nicht gleich, ob der Verstorbene bei der Trauerfeier noch einmal in die Mitte genommen und gewürdigt wird oder ob er sang- und klanglos verschwindet. Eine anonyme Beisetzung und eine „normale“ Beerdigung mit einem eigenem Grab sind nicht gleichgültig.

Meine Damen und Herren. Stellen wir die Frauen und Männer am Rand in die Mitte. Nehmen wir die Vergessenen in den Blick. Sie lassen uns mit anderen Augen sehen – mit den Augen der anderen. Die Menschen am Rande helfen uns, den Tod nicht an den Rand unserer Tage zu verdrängen, sondern ihn mitten im Leben wahrzunehmen. Echt wahr. Mitten unter uns. Drängen wir den Friedhof nicht weiter an den Rand. Holen wir den Tod wieder ins Leben zurück. Das Bewusstsein unserer Endlichkeit hilft uns, endlich zu leben.

Petrus Ceelen | Autor und ehemaliger Gefängnisseelsorger

 

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