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Bis wir tot sind oder frei – Straftäter als Symbolfigur

21. Oktober 2021

„Wir werden alles ändern. Alles.“ Die kämpferische Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) will das Schweizer Justizsystem der frühen 1980er Jahre von Grund auf umkrempeln. Sie vertritt rebellische Linksautonome wie das Punkmädchen Heike (Jella Haase) und nutzt das Gericht als Bühne, um auf die Missstände eines rückständigen Strafrechts aufmerksam zu machen. Eines Tages sucht der Industriellen-Sohn und Berufskriminelle Walter Stürm (Joel Basman), gerade mal wieder aus dem Gefängnis geflohen, ihren Rat. Der charismatische Stürm widerspricht allen Regeln, lebt bedingungslosen Egoismus und gerät dabei immer wieder mit dem System aneinander. Als der „Ausbrecherkönig“ erneut im Knast landet, kommt er in Isolationshaft.

Im Mai 1980 wurde Zürich durch gewalttätige Jugendproteste, die sogenannten Opernhauskrawalle, erschüttert. „Züri brännt!“ hieß ein 1981 vom Videoladen Zürich produziertes Video, das die Jugendunruhen aus Sicht der AktivistInnen dokumentierte. Entzündet hatte sich der Funke an der konservativen Kulturpolitik der Stadt Zürich. Die Stadtregierung hatte kurz zuvor einen Kredit von 60 Millionen Franken für die Sanierung des Opernhauses bewilligt, Forderungen von Jugendlichen nach alternativ-kulturellen Angeboten jedoch abgelehnt.

Das rebellische Punkmädchen Heike Vollmer (Jella Haase) mit ihrer Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) vor Gericht. © Philippe Antonello / Port au Prince Pictures

Am Abend des 30. Mai 1980 versammelten sich mehrere Hundert Jugendliche vor dem Zürcher Opernhaus, die Demonstrierenden warfen Bretter, Farbbeutel und Eier gegen die Polizei, diese antwortete mit dem Einsatz von Gummischrot und Tränengas. Es gab insgesamt mehrere hundert Verletzte auf beiden Seiten und Sachschäden in Millionenhöhe. Ausgehend vom Opernplatz breiteten sich die Unruhen in der ganzen Stadt aus und griffen später auch auf andere Schweizer Städte wie Basel, Bern und Lausanne über. Kleinere Jugendbewegungen formierten sich außerdem in St. Gallen, Luzern und Zug. In Winterthur wurde 1980 ebenfalls demonstriert, eine radikale Jugendszene machte in den folgenden Jahren mit einer Reihe von Farb-, Brand- und Sprengstoffanschlägen auf sich aufmerksam, die ihren Höhepunkt im August 1984 mit einem Sprengstoffattentat auf das Haus von Bundesrat Rudolf Friedrich erreichte. Die Behörden antworteten darauf mit einer rigorosen Verhaftungswelle, in deren Verlauf eine Frau in Untersuchungs-Isolationshaft Suizid verübte. International gab es in den frühen 1980ern vergleichbare Jugendbewegungen in Westberlin, Hamburg oder Amsterdam.

Rechtsrutsch

Der Verdruss vieler WählerInnen über die anhaltenden Krawalle führte bei den Gemeindewahlen im März 1982 zu einem Rechtsrutsch, parallel zum internationalen konservativ-neoliberalen Trend, mit dem Thatcherismus in Großbritannien, den Reaganomics in den USA und Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ in der Bundesrepublik. Auch bei den Stadtratswahlen flog die Sozialdemokratische Partei der Schweiz erstmals im 20. Jahrhundert aus der Regierung. Zehn Tage nach den Wahlen löste die AJZ-Trägerschaft den Vertrag mit der Stadt auf, und der Stadtrat ließ das Areal räumen und das Gebäude abreißen. Das Ende des AJZ hatte aber auch zur Folge, dass die seit den frühen 1970er Jahren zwischen verschiedenen Orten der Innenstadt pendelnde Drogenszene wieder heimatlos wurde und sich ab 1986 auf dem Platzspitz festsetzte.

Stürm – der Straftäter als Symbolfigur

Geboren wurde Walter Niklaus Stürm 1942 im Schweizer Kanton St. Gallen. Nachdem er als Fünfzehnjähriger der Vergewaltigung einer Mitschülerin beschuldigt wurde, nahm sein Vater ihn aus der Schule und zwang ihn, eine Lehrstelle anzunehmen. Im Zusammenhang mit einer Ausbildung zum Kfz-Schlosser entwickelte er eine Schwäche für schnelle, teure Autos. Da diese vom Gehalt eines Autoschlossers nicht zu finanzieren waren, habe er angefangen „zu delinquieren“, bekannte Stürm später. Erstmals straffällig wurde er im Alter von 20 Jahren wegen des Verkaufs gestohlener Autos. 1964 wurde Stürm mit 22 Jahren vom Bezirksgericht St. Gallen zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt, kurz darauf folgte der erste von insgesamt acht erfolgreichen Ausbrüchen. Spezialisiert auf Einbruch und Tresorknacken profitierte er davon, dass Alarmanlagen damals kaum verbreitet waren und die Löhne in vielen Firmen freitags noch bar ausbezahlt wurden. Nach wiederholten Ein- und Ausbrüchen kam er Ende der 1970er Jahre erstmals in Isolationshaft. In einer Zeit des Umbruchs, in der die repressiven Methoden des Staates immer stärker in die Kritik gerieten, wurde der völlig unpolitische Stürm zur Symbolfigur für die linke Bewegung.

„Freiheit für Stürm“ forderten die Jugendlichen auf Hauswänden, Transparenten und Betttuchbannern.Prominente setzten sich für seine Freilassung ein. Die Sympathien der Linken instrumentalisierte Stürm für seinen Kampf gegen die Isolationshaft, die er als „Todesstrafe auf Raten“ bezeichnete. Am 13. April 1981 gelang Stürm mit einem weiteren Ausbruch sein größter Coup. Am Montag vor Ostern durchsägte er die Gitterstäbe seiner Zelle und türmte über die Gefängnismauer, man ist bis heute unsicher, ob mit Unterstützung von Helfern aus der Jugendbewegung oder mit Hilfe der Brigate Rosse. Spätestens mit dieser Aktion wurde der Berufsverbrecher zum Volkshelden, von Teilen der Bevölkerung als eine Art Robin Hood verehrt. Es folgte ein ständiger Kreislauf aus Inhaftierung, Ausbruch, Flucht und neuerlicher Inhaftierung, Hungerstreik und Suizidversuchen. Konsequent verweigerte Stürm die Aussage gegenüber den Behörden. Er eignete sich juristische Kenntnisse an und schrieb tausende gerichtlicher Eingaben und Beschwerden für sich und seine Mithäftlinge. Nachdem Stürm geltend gemacht hatte, dass die bisherige Gefängnisverordnung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widersprach, musste der Schweizer Kanton Jura sie 1991 ändern.

Erneut straffällig

Nach einer weiteren spektakulären Flucht aus dem Universitätskrankenhaus Zürich im Februar 1988 dauerte Stürms Leben in Freiheit immerhin 16 Monate, bevor er auf der Kanareninsel Gomera gefasst wurde. Der letzte von acht erfolgreichen Fluchtversuchen gelang Stürm 1995: bei einem Hafturlaub für einen Prozess wegen Ehrverletzung gegen einen „Blick“-Journalisten, der ihn als Bankräuber bezeichnet hatte. In den 1990er Jahren nahm kaum mehr jemand Notiz von ihm. Im Oktober 1998 verließ Walter Stürm das Gefängnis erstmals seit fast 30 Jahren auf reguläre Weise. Da galt Stürm nicht mehr als Opfer einer unmenschlichen Justiz, sondern nur noch als gewöhnlicher Krimineller. Die letzte Verhaftung erfolgte im März 1999 in Horn TG im Kanton Thurgau wegen eines Banküberfalls, den Stürm mit dem alten Kollegen und Schwerverbrecher Hugo Portmann begangen haben soll. Am 13. September 1999 nahm sich Walter Stürm in der Isolationshaft im Kantonalgefängnis Frauenfeld mit einem Müllbeutel aus Plastik das Leben.

Und ausgerechnet der Straftäter wird in linken Kreisen und in der Jugendbewegung zum Symbol für Freiheit und die Würde des Einzelnen – und damit zum Idol einer ganzen Generation. Nicht nur das Punkmädchen Heike verfällt seinem schelmischen Charme, auch die Anwältin Barbara fühlt sich zu ihrem Mandanten hingezogen. Der Film „Bis wir tot sind oder Frei“ von Regisseur Oliver Rihs erzählt – basierend auf wahren Begebenheiten – eine Geschichte von Freiheit in ihren vielen, unterschiedlichen Facetten. Damals wie heute ist die Freiheit ein Gut, das verteidigt werden muss.

 

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