Ein Spannungsfeld wird deutlich, sobald die Bibel zu „Gnade/Barmherzigkeit“ und „Recht/Gerechtigkeit“ mit Blick auf Gott/das Gottesbild befragt wird. Die beiden biblischen Gottesaussagen markieren die Pole eines zentralen Spannungsverhältnisses, das nicht nur zu biblischen Zeiten Menschen umgetrieben, beschäftigt, aufgeregt hat. Dahinter verbirgt sich ein Menschheitsthema sowie existenzielle Fragen zum Umgang mit Schuld, Sünde, dem Bösen – und der Frage nach der Strafe und ihrer Berechtigung. Ein anspruchsvoller Querbeet-Ritt als Spurensuche durch die Bibel.
Bibel ist wahr, aber nicht historisch
Was tun? Quantitativ lösen, sprich: auszählen? Das führt zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Auf das erste oder das letzte Wort in der Bibel berufen? Auch das hilft nicht wirklich. Guter Rat ist mal wieder teuer. Ich möchte Sie einladen: und zwar zu einer Spurensuche quer durch die Bibel. Wir wollen einige Schlaglichter werfen. Das verspricht zwar weder eindeutige noch einfache Antworten, dafür aber jede Menge Inspirationsstoff zum Nachdenken und Diskutieren. Vorab noch ein kurzes bibelhermeneutisches Wort zur Fundierung: In der Bibel begegnet uns „Gotteswort“, so die christliche Glaubensüberzeugung, aber nach dem 2. Vatikanischen Konzil „Gotteswort in Menschenwort“ (so die beliebte Kurzformel).
Deswegen verbietet sich jede fundamentalistische Auslegung. Wir haben es in der Bibel mit „Gotteswort in Menschenwort“ zu tun, das bedeutet, alles, was wir hier lesen, ist auslegungsbedürftig, aktualisierungsoffen. Die Heilige Schrift atmet auf jeder ihrer Seiten geronnene Gottes- und Glaubenserfahrungen – des Volkes Israel, der ersten Christinnen und Christen, einzelner Gläubiger. In der Bibel begegnen uns Schrift gewordene Gottes- und Glaubenserfahrungen, wobei hier auch jede Menge menschliche Projektionen dabei sind, gerade wenn es um die Rede von Gott geht. Von daher: Die Bibel ist wahr, aber nicht in einem naturwissenschaftlichen oder historistischen Wahrheitsverständnis.
.1. Urgeschichte
In Gen 1-9 tauchen wir in die Urgeschichte ein: Schöpfung, Paradies, Flut. Es handelt sich um mythische Texte, z. T. hymnisch komponiert. Hier wird nicht der Frage nach dem „Wie“ nachgegangen, sondern die Frage nach dem „Warum“ / „Wozu“ gestellt. Es geht um den Urgrund allen Seins, um Grundlegendes der ganzen Schöpfung. Folgende Akzente werden in der ersten Schöpfungserzählung (ist eigentlich ein „Schöpfungslied“) gesetzt: Ordnung, Abgrenzung, Raum und Zeit werden strukturiert, sodass inmitten des lebensfeindlichen Chaos ein Lebensraum, ein Kosmos, ausgegrenzt wird. Dabei handelt es sich um ein Lebenshaus für alle, kein Geschöpf soll auf Kosten eines anderen leben. Diese Schöpfung ist „sehr gut“. Aber: In der zweiten Schöpfungserzählung mit der Paradiesgeschichte setzt Gott dem Menschen eine Grenze (von dem Baum darfst du nicht essen!), die dieser überschreitet (die Frage nach der Herkunft des Bösen beantwortet Gen 3 nicht; die Schlange ist Geschöpf Gottes wie alle anderen Tiere auch). Der Mensch isst vom Baum, ihm gehen die Augen auf, er erlangt Erkenntnis. Gott stellt die Menschen daraufhin zur Rede und zieht zur Rechenschaft, wobei gerade E. Zenger (Münster) immer betont hat: Gott verhängt keine Strafe, sondern lässt nur die Tatfolge Realität werden. Der mit Erkenntnis begabte Mensch kann nicht im paradiesischen Garten bleiben. Wobei die angedrohte „Strafe“/Tatfolge „Tod“ eben gerade nicht eintritt, womit die Schlange in diesem Punkt Recht behält.
Willkommen in der Wirklichkeit, könnte man sagen. Spannend in dieser Erzählung ist Gen 3,21: Gott bekleidet den Menschen mit Fellgewändern. In aller „Bestrafung“, in allem Tragenmüssen der Tatfolgen, blitzt ein quasi unverdienter Aspekt von Zuwendung, Schutz, Segen auf. Zielrichtung: damit Leben möglich bleibt. Und so geht es in der Urgeschichte weiter: Kain und Abel (Gen 4) sind wohlbekannt. Wieder wird eine Grenze überschritten – Leben und Tod/Sterben sind Gott vorbehalten. Kain aber tötet seinen Bruder Abel. Gott zieht zur Rechenschaft: Tatfolge (rastlos und ruhelos sein). Aber: Kainszeichen (Gen 4,15) – erneut: Schutzaspekt, Überleben-Leben soll möglich bleiben. Der dritte Akt der Urgeschichte ist die Erzählung von der großen Flut (Gen 6-9). Das von der Schöpfung gezeichnete Bild ist düster: Bosheit, Schlechtes, alles verdorben. Deshalb verdirbt Gott alles (Gen 6,11f.13; wörtlich identisch: Tatfolge). Nur Noah lebt gerecht und untadelig – und wird deshalb gerettet. Die „Arche“ ist das Rettungsschiff inmitten der Chaosfluten (beim „Reset“ der Schöpfung). So geht es mit Menschheit und Schöpfung nicht zu Ende, sondern Leben wird durch das todbringende Chaos hindurch gerettet und bewahrt. Auf dieser Grundlage ist ein hoffnungsvoller Neuanfang möglich.
Wobei: Gen 6,5 wird wörtlich identisch in Gen 8,21 wiederholt. Der Mensch ist böse von Jugend an. Diese Erkenntnis führt bei Gott jedoch zu sehr unterschiedlichen Reaktionen. Das erste Mal: Gott reut die Schöpfung und Gott vernichtet alles. Beim zweiten Mal: Nie wieder soll eine Flut alles Leben vernichten. Gott hat sich verändert und reagiert anders. Gott lässt sich auf die Schöpfung ein, ohne Wenn und Aber; Gott sagt bedingungslos JA zur Schöpfung. Jetzt sind wir quasi in der Welt angekommen, die auch unserer heutigen in den Grundzügen entspricht. Im paradiesischen Garten ganz zu Beginn, bzw. besser „als“ Beginn: Hier sind kein Recht oder Gesetz nötig, keine Strafe, damit aber wird auch die Rede von Barmherzigkeit oder Gnade obsolet. Gen 1f. zeichnet ein utopisches Bild von einem Lebenshaus für alle. Wichtig: Die Botschaft des Schöpfungsmythos weist nach vorne, nach vorne ins Paradies. So gilt es, Tag für Tag daran zu arbeiten, auch wenn klar ist, dass dies innerweltlich nie machbar sein wird. Ohne Gottvertrauen geht es nicht. Dabei bleibt es nicht, kann es nicht bleiben, der paradiesische Garten ist nur der Auftakt, aber ein prägender Auftakt. Kennzeichnend für die weiteren Entwicklungen: Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen. In der Folge treten Tatfolgen ein bzw. Gott setzt diese um. Dabei ist spannend: Stets ist ein Segensaspekt mit dabei, Schutz des Lebens, Leben bleibt möglich, Überleben. Die Urgeschichte ist eben keine reine „Abstiegsgeschichte“. Nie wird so radikal, unbarmherzig „gestraft“, dass Leben unmöglich wäre. Es bleibt immer ein „Ausweg“, ein Rettungs-Notausgang.
Die Vokabeln „gerecht“, „barmherzig/gnädig“ kommen expressis verbis in den ersten Kapiteln der Bibel nicht vor, aber Gott realisiert sie im Handeln. Gott verhält sich danach. Gott handelt „gerecht“, weil Gott die Taten des Menschen mit den zugehörigen Folgen versieht. Zugleich: Gott spricht ein unverbrüchliches JA zur Schöpfung. Und Gott handelt zugleich gnädig/barmherzig, weil Schutz, Segen, Leben möglich bleiben. Eben: Gottes unverbrüchliches JA zur Schöpfung. Dabei sind Verhältnismäßigkeit und Entsprechung wichtig, was bei der Fluterzählung zu der etwas herausfordernden Feststellung führt, dass „alles Fleisch/alle Wesen aus Fleisch“ verdorben lebt/leben (Gen 6,11f.). Das braucht es in der urgeschichtlichen Logik, auch wenn es leicht knirscht in der Argumentation. Dass das in unserer Welt oft leidlich nicht aufgeht, brauche ich Ihnen vermutlich nicht sagen. Und das wird auch biblisch aufgegriffen, problematisiert.
2. Sodom und Gomorra
Springen wir direkt hinein in die Abrahamsgeschichte und richten unseren Blick auf Sodom und Gomorra (Gen 18). Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra ist laut geworden, sie haben sich in schwere Sünde verstrickt. Gott ist unterwegs, um nachzusehen, ob das stimmt. Gott trifft auf Abraham und dieser fängt an, mit Gott zu handeln, zu feilschen: „Willst du den Gerechten mit dem Ruchlosen wegraffen?“ (Gen 18,23) „Fern sei es von dir, so etwas zu tun: den Gerechten zusammen mit dem Frevler töten. Dann ginge es ja dem Gerechten wie dem Frevler. Das sei fern von dir. Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ (Gen 18,25) Immer weiter handelt Abraham Gott herunter: 50 – 45 – 40 – 30 – 20 – 10.
Spannend: Hier würde die an sich gerechte Tatfolge für die überwältigende Mehrheit der Stadt nicht realisiert, wegen der zehn Gerechten. Gott würde die Nichtvollstreckung der an sich gerechten Strafe/Tatfolge akzeptieren, damit es nicht die Falschen auch trifft. Ist das barmherzig? Aber Gott verschont die Schuldigen wegen der Gerechten. Aber eigentlich ist dies doch ungerecht? Ein Ringen ist im Text zu spüren. Es wird die Erfahrung verarbeitet, dass es eben nicht immer gerecht zugeht. Gen 19 löst diese Spannung mit der bereits aus der Urgeschichte bekannten Schwarz-Weiß-Malerei: Offensichtlich sind nur Lot und seine Familie gerecht und rechtschaffen in der Stadt. Diese werden gerettet; die Städte gehen unter. So wird der Entsprechungszusammenhang aufrechterhalten, wobei die Grundproblematik treffend ins Wort gebracht ist: Nicht immer geht es den Gerechten gut, nicht immer trifft die „Strafe“ die Ruchlosen – alleine oder überhaupt. Oder mit den Worten aus der Bergpredigt: „denn er [Gott] lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,45)
3. Weisheitliches Denken
Womit wir schon mittendrin wären im Schlaglicht Nr. 3: Weisheitliches Denken. Ganz viele Erziehungsansätze und ebenso grundsätzlich ethisches Denken mit seinen Forderungen nach einem richtigen Verhalten (und auch Strafen, wenn dem nicht so ist) beruhen im Kern auf einem weisheitlichen Grundprinzip (neben dem Freiheitsgedanken), das bibelwissenschaftlich mit dem etwas sperrigen Begriff „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ bzw. „schicksalwirkende Tatsphäre“ bezeichnet wird. Zentral für die weisheitliche Weltbetrachtung ist eine Art Input-Output-Entsprechung, wie sie auch die goldene Regel aus der Bergpredigt ins Wort bringt: „Was du willst, …“ (Mt 7,12) Oder in Gerechtigkeitsterminologie: Es geht um „Leistungsgerechtigkeit“, was ich sowohl positiv (Lohn) als auch negativ (Strafe) konturieren kann. Wenn ich mich in der Welt umblicke: Irgendwie scheint diese Sicht naiv. Das geht doch oft nicht auf! Ps 73 ist geradezu ein weisheitliches Lehrstück dazu: „2 Ich aber – fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wären ausgeglitten meine Schritte. 3 Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich das Wohlergehen der Frevler sah: 4 Sie leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt. 5 Sie kennen nicht die Mühsal der Sterblichen, sind nicht geplagt wie andere Menschen. […] 12 Siehe, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum. 13 Fürwahr, umsonst bewahrte ich lauter mein Herz und wusch meine Hände in Unschuld. 14 Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt. […] 16 Ich dachte nach, um dies zu begreifen, Mühsal war es in meinen Augen, 17 bis ich eintrat in Gottes Heiligtum und einsah, wie es mit ihnen zu Ende geht. 18 Fürwahr, du stellst sie auf schlüpfrigen Grund, du lässt sie in Täuschungen fallen. 19 Wie werden sie in einem Augenblick zum Entsetzen, werden dahingerafft, nehmen ein Ende mit Schrecken. […] 27 Denn siehe: Die fern sind von dir, gehen zugrunde, du vernichtest alle, die dich treulos verlassen. 28 Ich aber – Gott nahe zu sein, ist gut für mich, / ich habe GOTT, den Herrn, zu meiner Zuflucht gemacht. Ich will erzählen von all deinen Taten.“ (Ps 73,2-5.12-14.16-19.27f.)
Die gefundene Lösung: „Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe“; die Frevler wird ein „Ende mit Schrecken“ erwarten. Oder wir blicken in die Offenbarung. Hier wird die ausgleichende Gerechtigkeit ins Jenseits verlagert: „4 Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel herrufen: Verlass die Stadt, mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen mitgetroffen wirst! 5 Denn ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt und Gott hat ihre Schandtaten nicht vergessen. 6 Zahlt ihr mit gleicher Münze heim, gebt ihr doppelt zurück, was sie getan hat! Mischt ihr den Becher, den sie gemischt hat, doppelt so stark! 7 Im gleichen Maß, wie sie in Prunk und Luxus lebte, lasst sie Qual und Trauer erfahren! Sie denkt bei sich: Ich throne als Königin, ich bin keine Witwe und werde keine Trauer kennen. 8 Deshalb werden an einem einzigen Tag die Plagen über sie kommen, die für sie bestimmt sind: Tod, Trauer und Hunger. Und sie wird im Feuer verbrennen; denn stark ist der Herr, der Gott, der sie gerichtet hat.“ (Offb 18,4-8) Im Jenseits werden die Verhältnisse umgekehrt. Von Erbarmen ist hier keine Spur! Die Grundhaltung ist quasi rigoristisch, zwangsläufig – damit aber Gerechtigkeit schaffend. So auch Joh 5,28f: „Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, werden zum Gericht auferstehen.“
Das heißt wenn ich eine bestimmte Form von Gerechtigkeit prioritär setze, ich nenne sie mal „ausgleichende Gerechtigkeit“ oder „Leistungsgerechtigkeit“, quasi jede/r bekommt, was er/sie verdient (im positiven wie im negativen Sinne), und dafür Gott in die Pflicht nehme, dann bleibt für gnädiges Erbarmen wenig Raum. Dann muss ein Gottesbild überwiegen, das Gott als gerechten Richter profiliert. Notfalls muss ich dies ins Jenseits verlängern. Aber die Heilige Schrift ist nicht eindimensional, sondern vielstimmig, so auch die Weisheitsliteratur. Der Weisheitslehrer Kohelet zum Beispiel vertritt eine andere Position/Option: „Freilich kenne ich das Wort: Denen, die Gott fürchten, wird es gut gehen, weil sie sich vor ihm fürchten; dem, der das Gesetz übertritt, wird es nicht gut gehen und er wird kein langes Leben haben, gleich dem Schatten, weil er sich nicht vor Gott fürchtet. – 14 Doch es gibt etwas, das auf der Erde getan wurde und Windhauch ist: Es gibt gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt. Ich schloss daraus, dass auch dies Windhauch ist. 15 Da pries ich die Freude; denn es gibt für den Menschen kein Glück unter der Sonne, es sei denn, er isst und trinkt und freut sich. Das soll ihn begleiten bei seiner Arbeit während der Lebenstage, die Gott ihm unter der Sonne geschenkt hat.“ (Koh 8,13-15)
Das Plädoyer von Kohelet lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: „Entspann dich! Bleib gelassen!“ So sympathisch ich diese Haltung finde, so schwierig fällt es mir aber auch, diese im Alltag umzusetzen. Bislang wurde der Tun-Ergehen-Zusammenhang zwar problematisiert, aber in der letzten Konsequenz irgendwie doch immer noch gerettet. Das ändert sich bei Ijob: Hier zerbricht der Tun-Ergehen-Zusammenhang bzw. wird auf den Kopf gestellt. Ijobs Anklage gegen Gott ist massiv, z.B. „Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, mein Geist hat ihr Gift getrunken, Gottes Schrecken stellen sich gegen mich. […] 9 Und wollte Gott mich doch zermalmen, seine Hand erheben, um mich abzuschneiden; 10 das wäre noch ein Trost für mich; ich hüpfte auf im Leid, mit dem er mich nicht schont. Denn ich habe die Worte des Heiligen nicht verleugnet.“ (Ijob 6,4.9f.) Seine Freunde vertreten die Gegenposition und wollen Gott gewissermaßen „in Schutz nehmen“, exemplarisch sei Elifas zitiert: „Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelassen? 8 Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch.“ (Ijob 4,7f.) Auch Bildad schließt sich an: „Beugt etwa Gott das Recht oder beugt der Allmächtige die Gerechtigkeit?“ (Ijob 8,3) Das könnte man nun noch lange ergänzen. Ijob bleibt bei seiner Position, seine Freunde auch. Am Ende ist aber Ijob im Recht, sagt Gott, die Freunde nicht (Ijob 42,7-9). Eine Lösung der Grundspannung ist allerdings auch hier nicht in Sicht. Gott bleibt unbegreiflich, nicht händelbar; auch etwas unberechenbar, auf jeden Fall nicht kontrollierbar. Ijob klagt einen Gott an, den er nicht nur als unbarmherzig erlebt, sondern auch als ungerecht! Auch diese Stimme mutet uns der biblische Kanon zu – zugleich vermutlich oft sehr erfahrungsnah. Was dem Menschen in dieser Situation bleibt: anprangern, klagen! Gerechtigkeit bei Gott einklagen, auch wenn die Klage manchmal unbeantwortet bleibt.
4. Prophetischer Fokus
Die Weisheitsliteratur nähert sich dem im Alltäglichen immer wieder erleb- bzw. erleidbaren Zerbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs aus der Perspektive des/der Gerechten quasi von der einen Seite, wobei dadurch das Gottesbild fundamental erschüttert wird, wenn ich grundsätzlich an ausgleichender Gerechtigkeit festhalte – in der prophetischen Literatur finden sich spannenderweise Spuren einer Annäherung an ein Zerbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs von der anderen Seite, aus der Perspektive der Sünder/Ruchlosen/Gottlosen. Biblische Prophetinnen und Propheten kündigen immer wieder das Gericht Gottes an. Dabei geht es nicht um Zukunftswahrsagerei, sondern um eine kritische Gegenwartsanalyse: Wenn ihr so weitermacht wie bisher, dann gnade euch Gott bzw. eben keine Gnade mehr. Das soll Umkehr bewirken, wie pointiert in Ez 33,11 festgehalten wird: „Sag zu ihnen: So wahr ich lebe – Spruch GOTTES, des Herrn -, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass ein Schuldiger sich abkehrt von seinem Weg und am Leben bleibt.“ Die prophetische Gerichtsandrohung hat eine zutiefst pädagogische Funktion. Das passt grundsätzlich gut zum urgeschichtlichen Befund: Gott ist ein Gott des Lebens; Gott liebt das Leben, will das Leben fördern. Zugleich: Die prophetische Gerichtsansage kündigt die – zumindest eschatologisch zu realisierende – Wiederherstellung ausgleichender Gerechtigkeit an, ja fordert diese von Gott ein. Nehmen wir beispielsweise Jona: Er wird von Gott nach Ninive geschickt, um der Hauptstadt des assyrischen Großreiches und damit einem der „Oberbösen“ in der Geschichte des Volkes Israel den Untergang anzusagen. „Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört!“ (Jona 3,4), so seine Botschaft, die Jona im Auftrag Gottes ausrichten muss. Kein Umkehraufruf, einfach die Ankündigung der Vernichtung. Verdient hat Ninive den Untergang auf jeden Fall, so zumindest aus der Perspektive Jonas und des Volkes Israel.
Aber was wird erzählt: Die Niniviten kehren um und Gott reut das angedrohte Unheil und Gott setzt es nicht um. Aus Sicht des Jona ist dies doppelt misslich, ja lebensgefährlich: Zum einen weist ihn dies als Falschpropheten aus, da seine Ankündigung nicht eintritt, er somit nicht wahr gesprochen hat (ihm droht die Todesstrafe); zum anderen ist dies auch aus der Perspektive der Opfer äußerst unbefriedigend – wieder einmal kommen die Täter ungeschoren davon. Vor diesem Hintergrund klingt Jona höchst vorwurfsvoll: „1 Das missfiel Jona ganz und gar und er wurde zornig. 2 Er betete zum HERRN und sagte: Ach HERR, habe ich das nicht schon gesagt, als ich noch daheim war? Eben darum wollte ich ja nach Tarschisch fliehen; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ (Jona 4,1f.) Wir sehen: Weder die Rede von einem gerechten Gott ist unproblematisch und leichthin im Munde zu führen noch die Rede von einem barmherzigen Gott. Diese Spur entdecken wir auch in der Offbarung: „9 Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. 10 Sie riefen mit lauter Stimme und sagten: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (Offb 6,9f.)
Auch die Rede vom barmherzigen Gott ist je nachdem mit Vorsicht zu genießen bzw. zu gebrauchen. Das hat immer auch etwas mit der eigenen Perspektive zu tun, schnell sind wir dann bei so großen Begriffen und Themen wie „Versöhnung“, „Vergebung“, „Erlösung“. Menschen erfahren beide Akzente an Gott bzw. projizieren beides in Gott hinein: gerecht – barmherzig. Mal überwiegt das eine, mal das andere. Situativ mal so, mal so. Mal wird das eine herausgefordert, mal das andere. Mal greift beides Hand in Hand. Ich kann/darf an einen gerechten Gott glauben – ich kann/darf an einen gnädig-barmherzigen Gott glauben. Das fundiert die Bibel vielfältig. Manchmal geht beides gut zusammen, manchmal geht weder das eine noch das andere.
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5. Jesuanische Akzente
Wenn wir nun zum Abschluss noch einen kurzen Blick in die jesuanische Tradition bzw. die Tradition der Evangelisten werfen, dann möchte ich gezielt Akzente herausgreifen, die den bisherigen Rahmen sprengen, das bislang stets zugrundeliegende weisheitliche Grundparadigma gezielt transzendieren – denn: Gutes Leben für alle kann durch ausgleichende Gerechtigkeit und reine Reziprozität alleine oft nicht erreicht werden. Zudem: Alles, was wir bislang bedacht haben, hat ja zutiefst etwas mit meinem Leben und Handeln und Tun zu tun.
Fünf pointierte Beobachtungen
- Jesus und die Ehebrecherin (Joh 8,1-11): Die Strafe für die Frau wäre vermutlich gerechtfertigt, so die Erzählung, aber nicht jedes falsche Verhalten wird entdeckt/geahndet. Und es betrifft schlussendlich doch alle: „Wer von euch …“ Am Ende der Erzählung steht ein Strafverzicht, ohne dass hier Barmherzigkeit geübt wird.
- Die Arbeiter im Weinberg (Mt 20,1-16): Alle bekommen den gleichen Tageslohn (1 Denar), unabhängig von der geleisteten Arbeit. Hier greift Bedarfs-/Bedürfnisgerecht statt Leistungsgerecht. Das wird von den ersten als ungerecht empfunden und sie murren. Gott entgegnet: „13 Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? 14 Nimm dein Geld und geh! Ich will dem Letzten ebenso viel geben wie dir. 15 Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?“ (Mt 20,13-15)
- Mt 5,46-48: „46 Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? 48 Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“
- Und wer unverdient (!) Vergebung erfährt, den muss dies verwandeln, vgl. Jesus und die Sünderin (Lk 7,36-5): „41 Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. 42 Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, schenkte er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? 43 Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr geschenkt hat. Jesus sagte zu ihm: Du hast recht geurteilt.“
- Falls die erfahrene Vergebung jemanden nicht verwandelt bzw. dies nicht „weitergegeben“ wird, dann sind die Konsequenzen hart: „32 Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich angefleht hast. 33 Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte? 34 Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Peinigern, bis er die ganze Schuld bezahlt habe. 35 Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergibt.“ (Mt 18,21-35)
Dr. Christian Schramm
Diözesanleiter Katholisches Bibelwerk, Bistum Hildesheim