Mitte November 2023 ist der ehemalige Gefängnisseelsorger, Hans-Gerd Paus von der niederrheinischen JVA Geldern, über 3500 Kilometer zu Fuß vom Nordkap in Norwegen über Schweden und Dänemark nach vier Monaten wieder am Ausgangspunkt Sendenhorst bei Münster. Dies alles um nach seinem Zwischenstop den Nord-Süd Weg weiterzugehen bis Sizilien. Damit nicht genug. Den Querweg von Ost nach West beginnend in Istanbul bis ins spanische Santiago plant er zudem. Zwei Jahre hat er dafür eingeplant. Vier Monate hat er jetzt hinter sich.
“Die vielen Wochen laufen haben mich geprägt und ich habe das Gefühl, dass ich es nicht mehr missen möchte. Das Gefühl sagt mir, laufen gehört zu mir. Es ist meine Bestimmung. Ich frage mich selber, ob das Laufen auch eine Flucht sein kann. Meine jetzige Antwort ist nein. Das Laufen ermöglicht mir aber, mich von vielem zu trennen, was ich nicht unbedingt brauche. Es beschränkt mich auf das Wesentliche und lässt mich erkennen, welche Menschen ich brauche”, so erzählt Paus in seinen Polar-Steps, der Plattform, in der er täglich von seinem Pilgerweg berichtet. Sein vorhergehender Dienst als Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Geldern begleitet ihn:
Blick auf die Inhaftierten
“Satt, warm, trocken”, den Leitspruch der Psychoszialen Notfallversorgung (PSNV) habe ich mir schon vor einiger Zeit zu eigen gemacht. Für die Arbeit in der PSNV stimmt er uneingeschränkt, definitiv. Aber reicht die Tatsache, satt zu sein, es warm und trocken zu haben, aus, um meine Zufriedenheit, die ich definitiv spüre, zu begründen. Schnell lautete meine Antwort “nein”. Ich brauche mehr. Mit Blick auf meine Arbeit mit den Inhaftierten in der JVA Geldern wurde mir sehr klar bewusst, zur Zufriedenheit gehört ebenso die Freiheit durch Bindung und die Freiheit, soweit sie im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft möglich ist. Unter “Freiheit durch Bindung” verstehe ich die Freiheit, die ich verspüre, wenn ich nicht alleine bin, sondern Menschen liebe und von Menschen geliebt werde. Vollkommen auf sich alleine gestellt sein, ist keine Freiheit, sondern Einsamkeit, die wiederum unfrei macht, weil sie mich lähmt. Die “Freiheit innerhalb einer demokratischen Gesellschaft” wird aus Sicht der Gefangenen gerade ihnen durch diese Gesellschaft genommen. Aber dennoch strebt die Gesellschaft die Freiheit als höchstes Gut an und für die Gefangenen gilt: Freiheit in der Perspektive.
Perspektivische Strafe?
Während meiner Dienstzeit arbeitete ich in einer Arbeitsgruppe für eine Gesetzesvorlage des Deutschen Bundestages mit, die den lebenslänglichen Freiheitsentzug (perspektivlos) ersetzt durch einen zeitlich befristeten Freiheitsentzug (perspektivisch). Wer glaubt, nach 15 Jahre ist doch Schluss, der irrt. Das deutsche Strafvollzugsgesetz sieht Freiheitsstrafe – im Rahmen des Artikel 1 des GG – vor, keine Rache. Manche Gegner zitieren sogar die Bibel und werfen “Auge um Auge und Zahn um Zahn” in die Diskussion. Das würde aber zum einen in deren Sichtweise sogar die Todesstrafe wieder rechtfertigen, zum anderen theologisch völlig falsch verstanden sein. Theologisch gesehen will diese alttestamentliche Forderung die Gewalt einschränken. Verhindern, dass sie ausufert. Wenn Dir jemand einen Knochen bricht, dann bricht ihm einen, nicht gleich alle. Neutestamentlich wird deutlich, dass Jesus dieses Eins zu Eins System nicht gutheißen will. Die Arbeitsvorlage scheint in den Schubladen der Abgeordneten ganz unten zu liegen.
Freiheit durch Bindung?
Ich fühle mich wohl, wenn ich satt bin, es warm und trocken habe, Freiheit durch Bindung erleben darf und perspektivisch in Freiheit lebe. “Perspektivisch in Freiheit ” bezieht sich nicht nur auf Gefangenschaft, sondern auch auf den Freiheitsentzug der durch eine Erkrankung geschehen kann. Bin ich einsam? Nein! Zwar gibt es gelegentlich das Gefühl, aber letztendlich ist es ein Gefühl im Kopf. Gefühle im Kopf gehören mir. Ich kann sie drehen und wenden und umkehren. Ich muss sie nicht für wahr halten.
Täter-Opfer Gespräch
Im Gefängnis war es mir ein großes Anliegen die Opfer und Geschädigten nie aus dem Auge zu verlieren. Ich stelle aber fest, dass viele Gefangene die Opfer nicht im Blick haben. Sie werden oft ausgeblendet. Das empfinde ich als sehr schmerzhaft. Die Geschädigten von Straftaten sind manches Mal im wahrsten Sinne des Wortes gesichtslos. Kaum einer der Straftäter konnte sich in meinen Gesprächen an Einzelheiten erinnern. Dies veranlasste mich eine Gesprächsgruppe zu gründen, in der es um Opferempathie ging. Zum ersten Mal setzten sich die Täter gedanklich mit ihren Opfern auseinander. Es flossen Tränen und es wurde der Wunsch wach, sich bei den Opfern zu entschuldigen. Das geht nicht so einfach. Die Opfer sind traumatisiert und ein Brief vom Täter kann eine emotionale Katastrophe auslösen. Manchmal lohnte es sich, dran zu bleiben und ich suchte den Kontakt mit Menschen, die eine persönliche Beziehung zum Opfer hatten, um heraus zu finden, ob ein Täter-Opfer Gespräch für beide eine Möglichkeit ist, mit dem Geschehenen besser klar kommen. Wenn sich das als Möglichkeit anbot, dauerte die Vorbereitung oft viele Monate. Ich sprach mehrfach mit dem Opfer und ebenso mit dem Täter. Einen “Fall” habe ich sehr deutlich vor Augen. Ein junger Mann hatte versucht seine Eltern im Schlaf zu ermorden. Kein Elternteil wurde getötet, aber die Mutter sehr schwer verletzt, so, dass sie für den Rest ihres Lebens gehbehindert bleibt.
Versöhnung ist nicht einfach
Die Vorbereitung des ersten Gesprächs nach der Tat hat fast ein Jahr gedauert. Das Ergebnis nach dem Treffen war: es war das erste und das letzte Gespräch. Wir schließen miteinander ab. In der Nachbereitung erfuhr ich von beiden, dass es gut war, dieses Gespräch geführt und diese Klärung gefunden zu haben. Opfer und Täter fühlten sich beide besser damit. Ich bin fest davon überzeugt, dass Rache nie die Grundlage für einen Heilungsprozess ist. Manchmal ist es nicht hilfreich, ein Gespräch zu suchen, sondern die “Kiste zu zu lassen”. Rache ist aber eine Energie raubende Beschäftigung, die toxisch wird, wenn sie es nicht schon von Anfang an ist. Versöhnung ist nicht immer möglich, und erst recht keine Vergebung. Dann ist eine Klärung des gewollten Status quo der richtige Weg. Meine oft gestellte Forderung, den Opfern die gleichen Zuwendungen zukommen zu lassen, um einen Heilungsprozess zu ermöglichen, wie den Tätern im Strafvollzug geboten wird, wurde nie erhört. Da stelle ich den Strafvollzug in Frage und bin froh, dass es den weißen Ring gibt, der sich um die Opfer kümmert, damit sie eine Chance haben aufzuarbeiten.
Recht auf würdiges Leben
Manchmal fühlt es sich falsch an, wenn Täter wieder frei leben und die Opfer leiden. Aus Erfahrung weiß ich, dass Täter ein Leben lang unter ihrem Tun leiden und ewig brauchen um sich selber wieder anzunehmen. Warum gibt es im Vollzug Selbsttötungen? Opfer und Täter sind Menschen die Hilfe benötigen. Menschen, die krankhaft schuldig werden, gelangen nicht “einfach so” wieder in Freiheit, sondern werden für die Zeit weggeschlossen, bis davon ausgegangen werden kann, dass sie geheilt sind. Auch da passieren Fehler. Aber Täter und Opfer haben ein Recht auf ein neues würdiges Leben. Einer meiner Inhaftierten ist über 40 Jahre im Gefängnis. Mit ihm führte ich wöchentlich Gespräche und ich arbeitete mit ihm daran, dass er akzeptieren kann, nicht mehr lebend aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das sagt sich so leicht, es ist aber schwer umzusetzen, weil es auch für den gilt, der die Würde eines anderen mit Füßen getreten hat.
Hans-Gerd Paus