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Antrag: „Ich möchte mit dem Seelenversorger reden“

27. August 2021

Die inhaftierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis ca. 24 Jahren im Jugendvollzug kommen zum größten Teil aus unterschiedlichen Migrationshintergründen. Sie sind ihren kulturellen- und religiösen Verbindungen entwurzelt worden. Sie erinnern sich wenig oder nur durch Erzählungen anderer an ihre Wurzeln oder besinnen sich wieder neu durch ihre Inhaftierung auf ihre Herkunft. Manche haben in ihrer Kindheit ein Wechselspiel zwischen Oma, Stiefvater, der leiblichen Mutter, Aufenthalte in Kinderheimen oder Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie Jugendhilfe-Maßnahmen im Ausland hinter sich.

Aus den Biographien der Jugendlichen und deren Delinquenzen wird deutlich, dass sie eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen, Naivität und Sorglosigkeit, Aggressionen und Beeinflussungen ausgesetzt waren und sind. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, Kulturschock, keine oder nur eine bruchstückhafte Schulbildung haben sie gelehrt, ihren Mangel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren. Jugendliche Täter sind oft selbst Opfer geworden. Es mag vielleicht eine der Arten sein, sich eine eigene Welt zu schaffen, sich denen zu entziehen, die mit ihren Schlüsseln Zugang zu den Türen haben. Auch die Gefängnisseelsorger gehören dazu. Ob die Schlüssel zum Zugang eines Jugendlichen mit Empathie und mit Sensibilität passen, erweist sich im konkreten Miteinander.

Das gegenseitige sich Hochschaukeln und subkulturelle Tendenzen fördern kaum eine Achtung und Akzeptanz untereinander. Hinter den Straftaten stehen junge Menschen mit ihrer Geschichte und Erkrankungen. Manche zeigen Reue, manche überspielen und manche lehnen jegliche Aufarbeitung ab. Der harte Umgang untereinander und gewaltübergreifendes Verhalten erübrigt oft eine positive Wendung hin zu mehr Menschlichkeit. Die Unterbringung erfolgt im Einzelhaftraum, bei Suizid- oder Selbstgefährdungsgefahr in Doppelhafträumen. In der Aufnahmeabteilung werden Jugendliche in der ersten drei bis vier Wochen ihrer Inhaftierung begutachtet, beobachtet und anschließend wird dementsprechend ein Vollzugsplan (früher Förderplan) erstellt. Darin geht es um seine Lebensgeschichte, seine Möglichkeiten der Förderung durch Berufsschul- oder Lehrausbildung, die Förderung durch ein Anti-Gewalt-Training (BiG), einer angemessenen Beschäftigung und um mögliche Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen.

Möglichkeiten und Grenzen

Als SeelsorgerIn im Jugendgefängnis sind diese in erster Linie für die Inhaftierten da. Doch sie verstehen sich ebenso als AnsprechpartnerIn für die Bediensteten. Die Gespräche „zwischen Tür und Angel“ im Dienstzimmer sind wichtige Beziehungspunkte. Die Rechte, Freiheiten, Bezüge und Kontakte, mit denen die Anstaltsseelsorge ausgestattet sind und im Organigramm auf der Ebene direkt neben der Anstaltsleitung stehen, könnten Anlass zur Sorge, Ängsten und Verschlossenheit sein. Kann der/die SeelsorgerIn und Pastor, der manches Mal in die Reihe der salbungsvollen „Gutmenschen“ eingeordnet wird, ein loyales Gegenüber anbieten? Solche Vermutungen beschäftigen manchen Gefangenen oder umgekehrt auch entsprechend den Vollzugsbediensteten. Transparenz und Beziehungsarbeit zu den Diensten im Vollzug sind vertrauensbildend und bilden ein gutes Fundament für Kooperationen und Zusammenarbeit.

Für die inhaftierten Jugendlichen sind mit der Seelsorge viele Hoffnungen verbunden, was dieser als Seelsorger für sie alles erreichen kann. Allgemein wird erwartet, dass sie einen Menschen mit Verständnis und Mitgefühl antreffen. Der Vertrauensvorschuss, dass die Gefängnisseelsorge der Schweigepflicht unterliegt, ist kostbar und schutzbedürftig. Das Gefängnis ist mit all den harten Geschichten ein Ort der permanenten Krise, wo alle, Jugendliche und VollzugsmitarbeiterInnen, oft unter Anspannung arbeiten. Die kollegiale Atmosphäre der MitarbeiterInnen und deren hohe Eigenverantwortlichkeiten sowie soziale Maßnahmen mit den Inhaftierten entspannen die Stimmung merklich.

Gesprächspartner und Wegbegleiter

Gegenüber den Tätern, Bediensteten und Angehörigen nehmen GefängnisseelsorgerInnen ihre Aufgabe als aktive GesprächspartnerIn und WegbegleiterIn wahr. Sie lassen sich auf den Menschen mit seiner Geschichte, mit seinen bis jetzt gemachten guten wie negativen Erfahrungen und seinen Hintergründen ein. Sie sind ein Gegenüber mit all den eigenen Stärken und Schwächen, ohne die Opfer und Geschädigten von Straftaten auszublenden. Seelsorge ist die Sorge um den ganzen Menschen, der „mehr“ ist, als gängige Trends aussagen, gesellschaftliche Verhältnisse wiederspiegeln oder das zugängliche Bewusstsein eines Menschen zeigen. Seelsorge ist zugleich Sozialarbeit, das dem Menschenbild entspricht mit der Gotteserfahrung des Zugewandtseins in den Lebensgeschichten und Abgründen. Die Person des Seelsorgers ist das Medium der Seelsorge: Die Fähigkeit, mit Themen von Schuld, Strafe, Leid, Versöhnung und Zuspruch umzugehen bedeutet, sich stets weiterzubilden und supervisorische Begleitung wahrzunehmen. Jugendlichen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Prägungen, mit bekenntnisfreien oder auch magisch angehauchten Glaubensvorstellungen zu begegnen, braucht einen angemessenen Umgang mit Ohnmacht und Macht, mit Sprachlosigkeit und aktiver Intervention sowie vermittelnder Tätigkeiten angesichts versteckter und geäußerter Erwartungen von „außen“ und „innen“.

Die Aufgabe ist nicht die Missionierung zum christlichen Glauben. Schon gar nicht in einem Umfeld mit einem hohen Anteil an muslimischen Gefangenen. Mit besonderer Freiheit und erwünschter Zusammenarbeit können sich GefängnisseelsorgerInnen neuen Facetten der Ökumene im umfassenden Sinne zuwenden. Auf solch einer Grundebene gilt es  Konflikte, die es unweigerlich aufgrund der jeweils unterschiedlichen Blickwinkel gibt, zu lösen und auszufechten.  Als SeelsorgerIn ist es die Aufgabe in der harten und rauen Umgebung die menschlichen und leisen „Zwischentöne“ der unterschiedlichen Beteiligten zu entdecken und ihnen Raum zu geben. Dass es dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt, Dinge entstehen, die die jeweils andere Seite wenig nachvollziehen kann, wird Realität bleiben, mit der GefängnisseelsorgerInnen umgehen dürfen.

Theologische und biblische Grunddimensionen

Im Mittelpunkt der Seelsorge steht der konkrete Mensch. Anteil zu nehmen und jeden Menschen in seiner Würde anzunehmen trotz gewaltiger, widersprüchlicher und schockierender Lebensgeschichten, ist die Kernaufgabe als SeelsorgerIn. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Benachteiligten und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der JüngerInnen Christi“ (II. Vatikanisches Konzil – Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes). Seelsorge gilt in umfassendem Sinne dem ganzen Menschen in all seinen Dimensionen. Die Menschenfreundlichkeit Gottes macht nicht Halt bei eigenem Schuldigwerden oder vor tiefen Abgründen des Menschen. Seelsorge lebt von der eigenen Betroffenheit und glaubt, dass Göttliches in jedem Menschen wirkt und lebt. Somit ist seelsorgerliches Handeln Reaktion und Antwort auf Gottes Handeln. In den Lebens-Wirklichkeiten und Realitäten von heute zeigt sich Gottes Angesicht.

Theologie der Befreiung

In aller Gottverlassenheit, Gewalttätigkeit und Aggression, ereignet sich die Botschaft von Befreiung, Versöhnung und Erlösung. Die Theologie der Befreiung schließt die prophetische Rolle ein. Zurückgreifend auf den biblischen Exodus des jüdischen Volkes aus Ägypten ist „Befreiung“ ein konkretes theologisches Anliegen. In Anwendung des Dreischrittes „Sehen – Urteilen – Handeln“ nimmt die Befreiungstheologie zuerst die Realität des Lebens in den Blick und durchleuchtet die Wirklichkeit mit der Brille des Wortes Gottes.

Daraus kann eine tiefere (innere) Befreiung und Veränderung möglich werden. Es gibt eine ganze Reihe von Bibelstellen im 2. Testament, in denen Jesus „verurteilten“ Menschen begegnet ist. Die Einkehr beim verhassten und „kriminellen“ Oberzöllner Zachäus (Lukas 19, 1-10) war für ihn kein Tabubruch, sondern Teil von Seelsorge. Er fragte ihn nicht zuerst nach seinen Taten, sondern er kehrte in sein Haus ein und aß mit ihm zu Abend. Auch wenn im schwierigen Alltag des heutigen Strafvollzugs vieles für sehr viel herausfordernder gehalten und nüchterner gesehen wird, so bleibt es doch bei diesem entscheidenden Impuls.

Michael King | JVA Herford

 

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