Im Christentum zählt jedes Leben eines Menschen, unabhängig vom Vergehen, betont Gaby Brülls von der Gemeinschaft Sant’Egidio. Menschlichkeit und Vergebung seien daher unverzichtbar. Sie warnt am Tag gegen die Todesstrafe vor einer immer härter werdenden Gesellschaft. Das Leben ist immer heilig und das gilt für alle, auch für Straftäter und Straftäterinnen.
Haben Sie Verständnis, wenn Menschen sagen, dass ein verurteilter Mörder es nicht verdient hat, weiterzuleben?
Natürlich kann man diese Gefühle nachvollziehen. Ich glaube, niemand ist davor sicher, dass er diese Gefühle nicht haben könnte. Aber das ist das eine. Das andere ist, dass eine Todesstrafe das Menschenrecht zutiefst verletzt, eine Folter ist und auch nichts wiedergutmachen kann – auch nicht das Vergehen von dem, der umgebracht hat. Ich denke, dass sich die Gesellschaft in dem Moment, in dem sie jemanden zum Tode verurteilt, auf die gleiche Stufe stellt und die Gewalt legitimiert. Genau das, was sie eigentlich verurteilt. Das hat noch in keiner Statistik der Welt irgendetwas zum Guten verändert. Es ist ein Menschenrecht, was nicht gewahrt wird, und jeder hat die Chance, sich zu ändern.
Gerade das glauben wir als ChristInnen. Wir sind dafür, dass die Todesstrafe abgeschafft wird, denn wir kennen viele Menschen, die unschuldig im Todestrakt sitzen oder die für eine belanglose Sache zum Tode verurteilt werden. Wir wollen die Todesstrafe weltweit abschaffen, weil sie ungerecht ist. Kritiker sagen, dass die Todesstrafe nur für Schwerverbrecher infrage kommt, also für Menschen, die selbst Leben genommen haben. Warum gewährt die Kirche diesen Menschen trotzdem noch Schutz? Es ist wichtig, dass wir jedem Menschen eine Chance geben. Wir glauben, dass sie sich verändern können. Wenn wir zurückschauen, hat selbst Paulus Christen verfolgt. Stephanus wurde gesteinigt. Aber er hat sich verändert.
Wir haben als Menschen nicht das Recht, uns Gott gleichzustellen und zu sagen, dass jemand sterben muss. Das können wir als Christen nicht tun. Das Leben ist immer heilig und das gilt für alle. Wenn wir anfangen, zu sagen, dass das Leben nur für diese oder jene wertvoll und nützlich ist und für die anderen nicht, dann wird es gefährlich. Dann haben wir einen Dammbruch. Irgendwann müssen wir uns die Frage stellen, wie Bischof Clemens August Graf von Galen. Er hat im Nationalsozialismus gefragt: Wenn die Ersten umgebracht werden, müssen wir fragen: Wer sind die Nächsten?
Sie engagieren sich seit Jahrzehnten international gegen die Todesstrafe. Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen?
Wir haben im Moment über 52 Kriege auf der Welt. Wir sehen, dass die Hinrichtungen gestiegen sind. Nach dem Anschlag im Iran sind viele Menschen hingerichtet worden. Das konnte Amnesty International belegen. Im Kongo soll die Todesstrafe wieder eingeführt werden. Die Gesellschaft wird härter. Wir sehen, dass sich alle auf die Stärke konzentrieren. Stärke bedeutet für manche, zu sagen: Die Todesstrafe muss wiederkommen. Das ist ein Problem. Seit Ende der 1990er-Jahre haben wir als Sant’Egidio angefangen, dafür einzutreten, dass die Todesstrafe abgeschafft wird. Das hat gute Sachen bewirkt. Mehrere Länder haben die Todesstrafe wieder abgeschafft, so wie jetzt in Simbabwe. Es gibt viele gute Tendenzen, aber es gibt auch die Gefahr der Instabilität, gerade in einer Zeit wie jetzt.
Sant’Egidio – Überblick
Die im Mai 1968 in Rom entstandene katholische Bewegung Sant’Egidio widmet sich der karitativen Arbeit, der Diplomatie in Bürgerkriegsgebieten sowie dem Dialog der Religionen. Sie hat nach eigenen Angaben rund 60.000 Mitglieder in 70 Ländern, davon 5.000 in Deutschland. Ihr Hauptsitz befindet sich im römischen Stadtteil Trastevere, ihr deutsches Zentrum seit 1983 Würzburg.
Seit 1986 ist die ökumenisch stark engagierte Gemeinschaft von der katholischen Kirche als Laienvereinigung anerkannt. Finanziert wird ihre Arbeit durch Mitgliedsbeiträge, Spenden sowie durch öffentliche Zuschüsse. Die Kollegin der JVA Würzburg, Doris Schäfer, gehört der Gemeinschaft an. Sie ist für die Arbeitsgemeinschaft International der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. tätig.
Papst Leo XIV. hat vor ein paar Tagen mit Blick auf rechte US-Katholiken gesagt: ‚Jemand, der gegen Abtreibung ist, aber für die Todesstrafe, der ist nicht wirklich ‚pro life‘, also nicht wirklich für das Leben.‘ Trotzdem berufen sich gerade in den USA viele Politiker auf genau diese christlichen Werte, wenn es um die Verteidigung der Todesstrafe geht. Wie passt das zusammen?
Das passt nicht zusammen. Es ist nicht vereinbar. Schon im Gebot heißt es: Du sollst nicht töten. Wir müssen immer das Leben schützen und in dem Sinne ist Leben immer Leben verteidigen – unabhängig davon, in welcher Situation ein Mensch sich befindet. Deswegen ist es wichtig, hier klar zu sagen, dass das nicht zusammenpasst.
Sie haben gesagt, die Gesellschaft wird immer härter. Machen Ihnen dann Worte wie die von Papst Leo Mut?
Ja, natürlich. Wir brauchen eine Stimme, die sich immer wieder klar positioniert und die sich für den Frieden, die Vergebung und die Menschlichkeit einsetzt. Gerade um Menschlichkeit geht es. Wir erleben, dass diese Härte, die wir in der Gesellschaft wahrnehmen, steigt. Es geht darum, dass Menschlichkeit verloren geht, und ich glaube, dass die Menschlichkeit immer die Antwort ist für alles. Wir von von der Gemeinschaft Sant’Egidio haben die Erfahrung gemacht, dass es nur über menschliche Beziehungen geht. Das haben wir gespürt, wenn wir uns für den Frieden einsetzen, wenn wir die Freundschaft mit den Menschen leben oder Friedensvermittlungen unterstützen.
Was erhoffen Sie sich, was von den Worten von Papst Leo bleibt?
Ich denke, wichtig ist, dass wir das ernst nehmen und als Christen versuchen, das umzusetzen. Und zwar jeder für sich in seinem Leben. Dann bleibt es nicht bei den Worten. Das ist eine Kraft und eine Hoffnung. Wir persönlich wissen, dass wir gefragt und herausgefordert sind, und wir können etwas tun. In einer Zeit, in der man sich oft als Zuschauer fühlt, der nicht viel tun kann oder ohnmächtig ist, ist es schon wichtig, diese Worte wahrzunehmen und zu versuchen, sie zu leben. Ich denke, jeder von uns kann immer ein Stück von dieser Menschlichkeit in seinem Alltag leben, gerade da, wo wir diese Härte spüren.
Das Interview führte Moritz Mayer | domradio.de