Vor dem Fall der Mauer hatte ich keine besondere Sehnsucht nach einem geeinten Deutschland. Aufgewachsen im Westen hatte ich nur entfernte Verwandtschaft im Osten und kannte dort niemand. Deutschland war für mich selbstverständlich Westdeutschland – da fehlte nichts. Heute irritiert mich meine Ignoranz von damals. Wie konnte es kommen, dass ich und wohl auch viele andere in Westdeutschland einen erheblichen Teil unseres Landes gar nicht wahr nahmen?
Das änderte sich für mich schlagartig mit einem ersten Besuch im Februar 1990 in der da schon ehemaligen DDR. Die Begegnungen und Gespräche entfachten in mir viel Lust, dieses für mich neue Land und seinen Menschen, die so anders lebten, zu entdecken. Dabei habe ich eine Kirche kennen und schätzen gelernt, die anders als die reiche und mächtige westdeutsche nur eine kleine Minderheit ist inmitten einer religionslosen Gesellschaft. Eine Kirche ohne großen Apparat, aber kreativ bei der Suche nach neuen Wegen, das Evangelium Jesu zu leben. Ich bin heute sehr dankbar, dass unser Land eins ist, ich bin dankbar für viele bereichernde Erfahrungen an vielen Orten, für die Möglichkeit, im Bistum Magdeburg als Seelsorger arbeiten zu können und nicht zuletzt für eine wunderbare Freundschaft.
Einheit in Vielfalt
Dabei sind die Herausforderungen deutlich: es braucht für die Einheit fortwährend demokratische Prozesse und den oft mühsamen Weg zum Konsens, und für den Schutz der Vielfalt Respekt und Offenheit füreinander. Erst das Ineinander von Einheit und Vielfalt macht die Kreativität und die Resilienz aller gesellschaftlichen und religiösen Systeme aus. Eine Einheit ohne Vielfalt wird zur Einbahnstraße und mündet in einer Sackgasse, eine Vielfalt ohne Einheit führt zu Spaltung in einzelne Teile, die allein nicht überlebensfähig sind. Wie schwer es uns fällt, Einheit in Vielfalt zu gestalten, erleben wir weltweit. Egozentrik und Abschottung im politischen Handeln nehmen zu, demokratische Strukturen werden zurückgedrängt, Autokratien entstehen. Ein atemberaubender technischer Fortschritt lässt alte Sicherheiten aus den Fugen geraten und die Welt unübersichtlicher werden. Dabei kann Einheit zur Abschottung werden und Vielfalt zur Bedrohung.
Wir kennen solche Entwicklungen auch in unserer Kirche, wenn Einheit mit einer dogmatischen Unfehlbarkeit von Päpsten und Bischöfen verwechselt wird und Vielfalt mit einer Abweichung vom wahren Glauben. Doch auch schon lange bestehende kirchliche Herrschaftsstrukturen zerfallen in Unglaubwürdigkeit, die Menschen verlassen die Kirche, sie wird bedeutungs- und damit machtloser. Dann mag die Versuchung nahe liegen, sich kirchlich als „heiliger Rest“ gegen die Herausforderungen der Welt zu verbarrikadieren, oder aber die Kirche begibt sich auf den Weg der Erneuerung.
Neuer Weg
Im Johannesevangelium gibt es ein berühmtes Gebet Jesu um die Einheit, oder, wie Fridolin Stier nah dem ursprünglichen Wortlaut übersetzte, um das in Eins sein. Für Jesus war klar, dass der Mensch bedingungslos aufgehoben ist in Gott. In der Kraft der Liebe ist es möglich, Vielfalt zu leben. Jesus sagt: „Ich bitte nicht für diese allein, sondern auch für jene, die um ihres Wortes willen an mich glauben“ – er weitet den Kreis der Jüngerinnen und Jünger und nimmt alle Menschen guten Willens in den Blick. Und er betet, „dass alle eins seien, wie du, Vater, in Eins mit mir und ich in Eins mit dir, dass auch sie seien in Eins mit uns“. Einheit ist für Jesus die liebende Wirklichkeit Gottes in uns Menschen, die zum Segen der Vielfalt wird. Sie zu leben und von ihr zu künden inmitten einer heillos zerrissenen Welt ist eine Herausforderung für die Kirche.
Dazu hat das Bistum Magdeburg als eines der ersten Bistümer in Deutschland ein Synodalgremium ins Leben gerufen, den Bistumsrat zur Beratung aller relevanten Fragen gemeinsam mit dem Bischof. Unter den gewählten Mitgliedern gilt Geschlechter-Parität, zwei Drittel sind ehrenamtlich tätig in der Gemeindeleitung, unter ihnen auch junge und anderssprachige Christinnen und Christen. Ein Weg neuen Miteinanders in der Kirche, der die Zuversicht wachsen lässt, dass auch aus einem kleinen Samenkorn ein Baum wachsen kann, in dem die Vögel des Himmels nisten können. Ein Ökosystem der Vielfalt in Einheit.
Christoph Kunz | Johannes 17, 20–26