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Der strafende, Zeus-ähnliche Übervater verschwindet

31. Dezember 2020

Ich saß in meiner Einzelzelle in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach, wartete auf meinen Prozess, der mir Sicherungsverwahrung bringen würde, war gerade in der Freistunde bewusstlos geschlagen worden und mein kleines Leih-Kofferradio von der Kammer war mein bester Freund. Dort hörte ich irgendwann auf WDR 5 in einer Buchbesprechung von einem englischsprachigen Buch „The Book of J“ von David Rosenberg und Harold Bloom, das eine hochgelobte Neuübersetzung alter Bibelquellen sei. Ich schrieb mir das auf, wie so viele Bücher, die ich noch lesen wollte, und vergaß den Zettel im Stapel meiner Papiere.

Jahre später war ich in der JVA Aachen in Strafhaft, war in einer Behandlungswohngruppe und hatte endlich einen Betreuer, Herrn K., einen liberalen evangelischen Freikirchler, der mich regelmäßig zu Gesprächen traf und trifft. Ich brauchte eine Bibel und fragte unseren Anstaltsseelsorger, ob er mir eine leihen könne. Prompt brachte er mir die Einheitsübersetzung und so konnte ich endlich bei allem von Jesaja bis Römerbrief mithalten. Ich war zwar vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetreten, habe aber nie aufgehört, mich mit meinem unbequemen Gott zu beschäftigen. Zu Weihnachten wollte mir Herr K. ein Buch meiner Wahl schenken und ich erinnerte mich an „The Book of J“. Recherchen ergaben, dass es seit der Veröffentlichung 1990 keine deutsche Übersetzung gab, also bat ich um das amerikanische Paperback.

Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23–33) enthält das in der Bibel singuläre Motiv, dass der Segen einer Göttlichkeit abgerungen wird.

Das Buch ist ein umstrittener nationaler Bestseller und ist ein kühnes Werk der literarischen Restaurierung, das eine der großen Erzählungen aller Zeiten und ihren mysteriösen Autor enthüllt. „J“ ist der Titel, den Gelehrte dem namenlosen Schriftsteller zuschreiben, von dem sie glauben, dass er für den Text verantwortlich ist, der zwischen 950 und 900 v. Chr. geschrieben wurde und auf den Mose-Texten des 1. Testamentes Genesis, Exodus und Numeri basiert. Im „The Book of J„, das David Rosenbergs Übersetzung begleitet, argumentiert Harold Bloom überzeugend, dass „J“ sehr wahrscheinlich eine Frau des Königshauses am Hofe König Salomos und eine Schriftstellerin von der Statur von Homer, Shakespeare und Tolstoi sei. Rosenbergs Übersetzungen aus dem Hebräischen erwecken die Geschichten zum Leben und offenbaren ihre überragende Originalität und ihr Verständnis von Menschlichkeit. Bloom argumentiert in mehreren Essays, dass „J“ kein religiöser Schriftsteller war, sondern ein erbitterter Ironist.

Wucht der einfachen Nomadensprache

Ich kann sehr gut Englisch und habe einen großen aktiven Wortschatz im Deutschen. Ich las das Buch und es haute mich aus den Socken. Was ich da hatte, war eine vollständige Neuübersetzung aller als sicher dem so genannten „Jahwisten“ zuzuordnenden alt-hebräischen Textquellen in modernes Englisch, wobei es den Übersetzern nicht um zeitgebundene, schnell veraltende Sprache ging, sondern um eine sorgfältige Übertragung einer schlichten, bildhaften Nomadensprache, die voller Humor und Lebensweisheit den Gründungsmythos Israels erzählt. Vermutlich entstanden im 10. vorchristlichen Jahrhundert, vermutlich am Hof von König Rehoboam, vermutlich durch einen Historiker als Mitglied des Hofstaates und – Gipfel der Vermutungen – vermutlich war dieser Historiker eine Frau, eine literarischen begabte Prinzessin am Königshof. Reden wir also mal von einer „Jahwistin“ Die Argumente in den begleitenden Kommentaren klangen plausibel für mich als interessierten Laien. Der hohe Ruf der Übersetzer und der Text sprachen für sich selbst. Es war eine echte Neuentdeckung, kunstvolle Hoch-Literatur auf einem Niveau mit dem Gilgamesch-Epos.

Ich bin ein Bücher-Aficionado und wurde nun ein übers andere Mal zum Bibel-Sammler. Ich fand zwar die entsprechenden Textstellen auch in der Einheitsübersetzung, dort aber farblos, nüchtern und erschreckend summarisch übersetzt. Die Lutherbibel, King-James-Bible, die evangelische Gute Nachricht, selbst die tolle Züricher Bibel waren alle anders und reichten nicht an „The Book of J“ ran, allenfalls die Pentateuch-Übertragung eines jüdischen Rabbiners aus dem wilhelminischen Kaiserreich kam nahe ran. Letztere fand ich in der hiesigen Gefängnisbücherei.

Gott auf Augenhöhe entdeckt

Die Nächte im Gefängnis sind lang und ich wollte den Seelsorgern und einigen Mitgefangenen zeigen, was an dem Text so faszinierend war. Mittlerweile hatte ich die Sicherungsverwahrung angetreten und war auf dem Weg in die Sozialtherapie. Das ist ein steiler, fordernder Weg und zur Entspannung fertigte ich nach und nach eine Übersetzung der 178 Fragmente an. Mein Psychologe Herr D. ermutigte mich, bei dieser Beschäftigung gewissermaßen den verschütteten alttestamentarischen Gefühlen in mir nachzuspüren. Mein Mentor Herr Sch. warnte, mich nicht zu übernehmen und mich selbst nicht aus dem Blick zu verlieren Ich hatte Begleitung und Rat. Dabei hing ich nicht nur an der einfachen Sprache, die ich zu erhalten suchte. Auch den Klang, den Rhythmus und den Humor wollte ich erfahrbar machen. Mit der Übersetzung war ich irgendwann fertig. Als der pensionierte Studienrat und Alt-Testamentler Herr B. meine Übertragung als gültige Lesart bezeichnete, war ich endlich auch zufrieden. Ich kann ja kein Alt-Hebräisch.

Ich habe einen Gott entdeckt, der sich zu seinen Geschöpfen auf Augenhöhe begibt und treu dort bleibt als unfassbarer, überwältigender Brennpunkt an Lebenskraft. Ein Freund zum Bleiben. Als mir dann noch auffiel, dass Jesus in den Evangelien ungewöhnlich gerne (weil oft) aus den jahwistischen Fragmenten zitiert und deren Geist lebt: Gott geht neben mir her und verlässt mich nicht – da verschwand der strafende, Zeus-ähnliche Übervater. Gott als verlässlicher Freund tauchte auf unter den Übermalungen und Überfrachtungen etlicher Jahrhunderte an Bibelredaktion. Das war neben vielem anderen einer der Türöffner für meinen Wiedereintritt in die Kirche.

Eigentlich kann ich gar nicht malen

Ich hatte noch nie in meinem Leben gezeichnet, ich konnte das nicht und hielt das für eine unverrückbare Tatsache. In der Sozialtherapie gerieten so manche meiner unverrückbaren Tatsachen ins Wanken, purzelten zusammen und aus den Trümmern musste ich mich selbst neu finden. In der Werkhalle saß ich wie ein Fisch auf dem Trockenen vor einem Klumpen Lehm. Nach der zehnten Tasse hatte ich die Nase voll und versuchte was Neues. Ich malte Männchen mit Punkt-Strich-Gesichtern, die von Monat zu Monat die Augen mehr aufmachten und an Ausdruck gewannen. Dann formte ich rechteckige Kacheln und fing bei Fragment eins an: „…und blies den Wind des Lebens in seine Nüstern“. Das Delfter Blau reservierte ich für meine Hauptperson Jahwe und so entstand eine Bildergeschichte, in der ich endlich meine Gefühle gleichsam entdeckte und ausdrückte. Mittlerweile hatte ich eine nordfriesische Bibelausgabe geschenkt bekommen, die historische Bibelkacheln zur Illustration enthielt. Meine Reise durch und mit dem Text, durch die Bilder hindurch, alles hier an diesem Ort hat mich verändert und dafür bin ich dankbar.

Hans-Werner Klein | Aachen

 

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