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Zwei Gesichter mit verschiedenen Seiten eines Menschen

25. April 2025

Ein Mensch sagt das eine und tut das andere. Janusköpfig, doppelköpfig, unaufrichtig, falsch, verlogen, doppelzüngig oder hinterhältig – mit diesen Attributen beschreiben wir Menschen, von denen sie sagen: Sie haben zwei Gesichter. Manche dagegen möchten genau das Gegenteil sein: aufrichtig, ehrlich und authentisch.

Das letzte Abendmahl des italienischen Malers Leonardo da Vinci, ist einr berühmtestes Wandgemälde. Es schmückt die Nordwand des Refektoriums (Speisesaal) des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand. Foto: Adobe Stock

Es wird erzählt, dass die letzten beiden Gesichter, die Leonardo da Vinci an seinem Wandgemälde vom letzten Abendmahl noch ausmahlen musste, die von Jesus und Judas gewesen seien. Weil sich unter den Mönchen des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand niemand weder für den Sohn Gottes noch für seinen Verräter Modell stehen wollte, wurde die Suche auf ganz Mailand ausgedehnt. Die Legende erzählt, dass da Vinci an einem Fluss auf einem Fährmann traf mit einem wunderschönen ebenmäßigen Gesicht. So fehlte nur noch das Gesicht des Judas, dem, wie es heißt, die Bosheit des Verrats im Gesicht stehen solle. Nach Jahren der Suche wurde da Vinci auch dafür fündig.

Gegensätzliches

Allerdings offenbarte sich der „Judas“ als „Jesus“ mit der Fertigstellung des Wandgemäldes. Wie es die Legende – oder der Zufall – will, hatte da Vinci im Anstand von vielen Jahren und einer Lebensgeschichte des Fährmanns, die sichtbare Spuren des Grauens im seinem Gesicht hinterlassen hatten, das gleiche Modell ein zweites Mal gewählt. Wenn ich von den „zwei Gesichter“ eines Menschen lese, dann bin ich weniger bei den von Falschheit geprägten Charakteren unserer Gesellschaft, als vielmehr bei denen, die ich täglich in den Einzelgesprächen des Jugendvollzuges in Herford kennenlerne. Die wenigsten werden mir glauben, wenn ich davon erzähle, wie höflich, respektvoll, wie humorvoll und dennoch ernsthaft, wie besorgt und emotional mir die jungen Männer begegnen. Im Gegensatz dazu nicht selten der Inhalt des Haftbefehls, die Berichterstattung der Presse oder das Urteil, das psychologische Gutachten oder auch die Einschätzung der Eltern, Großeltern oder Betreuerinnen und Betreuer.

An einem Tisch

Zwei Gesichter, mindestens zwei Seiten desselben Menschen. Und beide Gesichter sind nicht falsch. Oft liegen Monate oder Jahre und nicht selten eine Geschichte, eine Lebensgeschichte dazwischen. Und hier hat die Seelsorge ihren Raum. Die absolute Verschwiegenheit, das vorbehaltlose Interesse, das absichtslose aktive Zuhören und nicht zuletzt die vorurteilsfreie Begegnung ermöglicht den Raum, dass beide Gesichter sich zeigen können, aufrichtig, ehrlich und authentisch. Hier hat die Gefängnisseelsorge ihren Ort. Hier komplettiert sich das Bild von jungen Männer, die wie auf dem Gemälde eingeladen sind, sich mit Jesus an einen Tisch zu setzen. Eine Erkenntnis die unsere Gesellschaft immer dann herausfordern muss, wenn sie das eine sagen und das andere tun.

Stefan Thünemann | Titelbild: Imago

 

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