Zum 37. Friedenstreffen in Berlin Mitte September 2023 begrüßte der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hochrangige VertreterInnen der Weltreligionen. “Gemeinsamen im Gespräch nach Wegen zu suchen, damit die Welt eine friedlichere wird, gibt Hoffnung in einer Zeit, die alles andere als friedlich ist. Es ist eine Zeit, in der für uns Europäer ein Alptraum Wirklichkeit geworden ist: Auf unserem Kontinent tobt zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder ein grausamer Angriffskrieg”, so Steinmeier. Mit dabei ebenso Doris Schäfer, die als Vertreterin der Internationalen Kommission ICCPPC in Ihrem Statement fragt, was der Vollzug und die Gefangenen für den Frieden tun können…
Für ChristInnen ist es wichtig, die Gefangenen nicht zu vergessen. Sie gehören zu den Armen, mit denen sich Jesus im Matthäusevangelium identifiziert: „Ich war gefangen und ihr habt mich besucht.“ Gefangene brauchen Menschen, die ihre Worte nach draußen tragen oder die ihnen helfen, das, was sie empfinden und erleben, in Worte zu fassen. Einer, der dies in wunderbarer Weise getan hat und tun konnte, weil er ein Mann des Wortes war, war der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Er ist Zeuge dafür, dass Gott im Gefängnis in außergewöhnlicher Weise gegenwärtig ist. Bevor er im Konzentrationslager hingerichtet wurde, war er in Berlin inhaftiert. In seinen Briefen und Gedichten aus dem Gefängnis spiegeln sich Erfahrungen vieler Gefangener.
„Wir Armen, wir Reichen, im Unglück Gleichen, wir Guten, wir Bösen, was je wir gewesen, …
wir Unschuldigen und wir schwer Verklagten, von langem Alleinsein tief Geplagten…“
Dietrich Bonhoeffer
In getrennten Welten?
Bonhoeffer war unschuldig. Trotzdem sieht er sich mit jedem Gefangenen eng verbunden. Wie sich Jesus mit allen Gefangenen in gleicher Weise identifiziert, lässt auch Bonhoeffer, der Pfarrer, der aus gutem Hause Stammende keine Unterschiede gelten. Das Alleinsein kennzeichnet alle. Gerade in der ersten Zeit, in Untersuchungshaft, ist der Kontakt nach draußen sehr eingeschränkt. Besonders groß ist die Einsamkeit von Gefangenen, deren Angehörige im Ausland leben oder die die Landessprache nicht sprechen. Viele Gefangene verlieren während der Haftzeit ihre Verbindung nach draußen, zahlreiche Bindungen gehen in die Brüche, weil man in getrennten Welten lebt.
Selbst die Anwesenheit von anderen Gefangenen ist oft keine adäquate Antwort auf die Einsamkeit. Erst letzte Woche sagte mir eine Gefangene: „Jeden Tag baue ich Mauern um mich selbst, die höher sind als die des Gefängnisses. Wenn ich eine schlechte Nachricht erhalte, lasse ich mir nichts anmerken. Aber am Abend in der Zelle, da kommen die Tränen.“
Die Situation in Europa
Das Leid der Gefangenen ist überall gleich. Insgesamt gibt es in Europa etwa 1,5 Millionen Menschen in Haft. Ich möchte Ihnen einige Situationen vorstellen: Während Norwegen manche Gefängnisse als Modelle humanen Strafvollzugs entwickelt hat, sind in Schweden die Gefängnisse seit einigen Jahren aufgrund des harten Durchgreifens gegen Bandenkriminalität überfüllt. Das hat den Haftalltag sehr verändert. Überbelegung gibt es in weiteren 13 Ländern Europas. Das führt nicht nur zu wachsenden Spannungen, sondern auch zu schlechterer gesundheitlicher Versorgung, was sich vor allem während der Pandemie gezeigt hat,. Es gibt einen Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen sowie weniger Zeit für die Entlassungsvorbereitung. Dies ist umso bedauerlicher, als diese Bereiche überall schon ungenügend sind.
In Malta dagegen landen viele Flüchtlinge. Sie sind in der Regel keine Verbrecher. Aber aus unterschiedlichen Gründen machen sie einen großen Teil der Gefängnisbevölkerung aus. Ähnlich hohe oder noch höhere Prozentzahlen an Ausländern erreichen viele andere kleine Staaten, wo der Anteil der Gefangenen ohne nationalen Pass zwischen 40 % und 75 % liegt. Die großen Länder Westeuropas liegen bei 30 %, während in den meisten osteuropäischen Ländern der Anteil wesentlich geringer ist. Diese Situation ist für mich eine große Anfrage: Viele von ihnen werden verurteilt aufgrund von Taten, die mit der Armut zusammenhängen, aus der sie kommen; ich denke dabei z.B. an die Roma aus Rumänien oder an die lateinamerikanischen Frauen in finnischen Gefängnissen, die sich als Drogenkuriere missbrauchen ließen, um ihre Familie zu ernähren. Oder aber die vielen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte oder ihrer Flucht traumatisiert sind. Die psychiatrische Abteilung der JVA Würzburg ist voll mit ihnen. Eine Inhaftierung stellt in keiner Weise eine Lösung für ihre Probleme dar. Und die Gefängnisse tun sich schwer auf sprachliche Probleme zu reagieren oder mit Menschen unterschiedlicher Kultur umzugehen.
In französischen Gefängnissen und auch anderswo stellt sich die Frage nach der Betreuung muslimischer Gefangener und wie man eine Radikalisierung in Haft vermeiden kann. Das beinhaltet die noch wichtigere Frage: Wie kann man diesen entwurzelten und oft auch verzweifelten Menschen neue Orientierung und neuen Halt geben? Das ist nicht nur ein christliches Problem. Deshalb ist es wichtig, dass alle Akteure der Seelsorge zusammenarbeiten. Neben den Christen sind das zunehmend Muslime oder Freikirchen wie in Osteuropa. Oft entsteht dadurch eine Konkurrenzsituation. Stattdessen sollte man lernen, die Sorge um die Gefangenen miteinander zu teilen. Papst Franziskus sagt in seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“: „Wir müssen uns aber zusammenschließen in einem ‚Wir‘, welches das gemeinsame Haus bewohnt.“ Dafür sind auch die Ehrenamtlichen ganz wichtig. Sie bilden eine Brücke nach draußen. Sie kümmern sich oft um konkrete Bedürfnisse von Gefangenen. Mit ihnen können sie endlich mal wieder ein normales Gespräch führen. Und sie kommen, weil ihnen die Gefangenen am Herzen liegen. Die Unentgeltlichkeit spielt eine enorme Rolle!
Keine freie Entscheidung im Gefängnis
Ein weiteres, wirklich großes Problem sind die Suizide. Durchschnittlich suizidieren sich 5 von 10.000 Gefangenen jährlich in Europa, während die Suizidrate für die normale Bevölkerung 1 pro 10.000 Einwohner beträgt. Zusätzlich gibt es eine ganze Reihe von Suizidversuchen und noch mehr Suizidgedanken. Viele ziehen Bilanz. Sie empfinden ihre Straftat als Teil einer Geschichte von endlosem Scheitern. Die Unmöglichkeit, sich abzulenken oder mit jemandem zu sprechen, führt zu einer gefühlten Ausweglosigkeit. Im Februar dieses Jahres ist es zum ersten assistierten Suizid in einem Schweizer Gefängnis gekommen. Ein Gefangener hatte das gleiche Recht für sich eingeklagt, wie es freien Schweizer BürgerInnen zusteht.
Die Gefängnisseelsorge in der Schweiz hat eine Stellungnahme dazu veröffentlicht. Sie weisen darauf hin, dass der Tod im Gefängnis immer angstbesetzt ist. Jeder Tod eines Mitgefangenen verursacht Schockwellen und viele Gefangene treibt die Angst um, dass während ihrer Haft ein Angehöriger sterben könnte. In der Stellungnahme wird betont, dass sich die Situation von Inhaftierten so sehr von den draußen Lebenden unterscheidet, dass dasselbe Recht in diesem Falle eine Ungleichheit darstellt. Im Gefängnis kann man keine freien Entscheidungen treffen. Der psychische Druck ist oft enorm, die eigene Sicht ist eingeschränkt. Man hat nicht die Möglichkeit, mit Angehörigen oder Freunden zu sprechen. Einem Gefangenen ein Recht auf Suizid zugestehen, kommt einem Eingeständnis gleich, dass man für seine verzweifelte und ausweglose Lage keine menschliche Alternative anbieten kann.
Gefängnis ein Ort des Gebetes?
Auch Bonhoeffer kannte die seelische Not. Er kannte jedoch eine Linderung seiner Nöte, sodass er eine Aufzählung mit der Bemerkung beendet: „Überwindung im Gebet“. Das Gefängnis ist tatsächlich ein Ort des Gebetes! Und es ist ein Ort der Fragen. Ich kenne wenig andere Orte, wo so intensiv nach dem Leben, nach dem Sinn des Lebens, nach Schuld und Vergebung, nach Halt und Hilfe, nach den Mächten, die das Leben bestimmen, gefragt wird. Obwohl Gefangene vorher oft in einer Umgebung lebten, in denen es wenig Kontakt zu Religion und Kirche gab, fehlt es ihnen nicht an einer tiefgehenden Frage nach Rettung, danach, Gott kennenzulernen und von ihm angenommen zu werden. In der Prüfung, wie sie eine Haft darstellt, brechen sich diese Fragen oft machtvoll Bahn. Im Gefängnis beginnen alle, ob sie sich vorher in kirchlichen Kreisen aufhielten oder das Evangelium und ein Leben als Christ kaum oder gar nicht kannten, die Kraft der Bibel zu verstehen und den Glauben auf neue Weise zu leben. Bonhoeffer selbst hat die Bedeutung von Weihnachten besser verstanden.
Am 17. Dezember 1943 schreibt er nach Hause: „Wahrscheinlich wird in diesem Hause hier von Vielen ein sinnvolleres und echteres Weihnachten gefeiert werden, … dass Gott sich gerade dorthin wendet, wo die Menschen sich abzuwenden pflegen, dass Christus im Stall geboren wurde, weil er sonst keinen Raum in der Herberge fand, – das begreift ein Gefangener besser als ein anderer und das ist für ihn wirklich eine frohe Botschaft, und indem er glaubt, weiß er sich in die alle räumlichen und zeitlichen Grenzen sprengende Gemeinschaft der Christenheit hineingestellt und die Gefängnismauern verlieren ihre Bedeutung.“ In jedem Menschen steckt etwas Gutes, ist ein Abglanz der Liebe Gottes zu finden. Die Jüdin Etty Hillesum, die ebenfalls durch die Nationalsozialisten inhaftiert wurde, schreibt in ihrem Tagebuch: „Das Elend ist wirklich groß“ und dennoch quillt es mir immer wieder aus dem Herzen herauf: „Das Leben ist etwas Herrliches und Großes …, jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen.“
Abglanz von Güte Gottes in jedem Menschen
Was können Gefangene für den Frieden tun, können wir uns fragen? Sind nicht einige von ihnen selbst in Kriege im Kleinen verwickelt, die sie angezettelt haben oder denen sie zum Opfer gefallen sind? Und doch können wir von ihnen lernen, dass in jedem Menschen, auch in denen, die ein abscheuliches Verbrechen begangen haben, ein Abglanz von Gottes Güte verborgen ist. Wir können lernen, jeden Tag ein Stückchen Liebe und Güte in uns selbst zu erobern. Bonhoeffer beendet sein zu Beginn zitiertes Gedicht mit einem Appell der Gefangenen: „Bruder, wir suchen, wir rufen dich! Bruder, hörst du mich?“ Das empfinde ich als Anfrage – an mich persönlich, die ich, wie viele andere, das Privileg habe, im Gefängnis Dienst zu tun –, aber auch an uns alle.
Forum 6 – Prison: Failure, Resilience, Hope
Doris Schäfer | European representative of ICCPPC