Im Sommer 2023 ist der ehemalige Gefängnisseelsorger Hans-Gerd Paus von der niederrheinischen Justizvollzugsanstalt Geldern vom Nordkap in Norwegen aufgebrochen und südwärts durch Schweden, Finnland, Dänemark, Deutschland, Österreich und Italien gepilgert. Nach 231 Tagen ist er an seinem Ziel über Sizilien auf der Insel Malta angekommen. Was hat diese Tour mit ihm gemacht?
Wie haben Sie sich bei Ihrer Pilgertour jeden Tag aufs Neue motivieren können?
Anfangs war es tatsächlich die Euphorie zu merken, dass man voran kommt und eine Grenze zu überschreiten. Dann kam die nächste Grenze, die man überschreitet. Irgendwann war es selbstverständlich. Das Laufen war Tagesthema. Dieses Laufen gab mir auch Sinn. Ich hatte Zeit. Es war Luxus pur. Ich hatte Zeit zum Nachdenken, zum Sehen, zum Erleben. Das alles in Schrittgeschwindigkeit. Ich musste nichts hektisch erleben. Es war wunderschön und es war auch mit die Motivation.
Losgegangen ist es am Nordkap, ganz weit oben in Norwegen. Jetzt sind Sie auf Malta angekommen und einmal nord-südwärts durch Europa. Wie viel Kilometer haben Sie zu Fuß zurückgelegt?
Ungefähr 6.500 Kilometer sagt mein Zähler.
Das ist eine beachtliche Kilometerleistung. Wie geht es Ihnen denn körperlich und mental?
Mental geht es mir super gut. Rund 19 Kilometer vor dem Ziel hatte ich allerdings ein kleines Missgeschick mit meinem Knie. Seitdem tut es weh. Dann habe ich noch einen Leistenbruch, der operiert werden muss. Das kann man jedoch mit Hilfsmitteln überbrücken.
Wie ist es zu dem Leistenbruch gekommen?
Wenn man jeden Tag in Skandinavien durch die Wildnis läuft und wegen des vielen Proviants 20 Kilogramm auf dem Rücken hat, kann man einen Leistenbruch bekommen.
Sie haben Interessierte mittels der App “Polarsteps” auf Ihrer Reise mit täglichen Texten, Gedanken und Bildern mitgenommen. Wieso haben Sie das gemacht?
Es war Eigennutz, muss ich sagen. Mich haben früher viele gefragt, wie ich mit Einsamkeit umgehe. Ich fotografiere gerne und habe auch auf der Reise fotografiert. Ich hatte nur das Handy mit auf meiner Reise dabei. Damit kann man recht gute Fotos machen. So habe ich andere mitnehmen können. Das ins Wort zu bringen, war eine Selbstreflexion. Ich habe aber nicht alles veröffentlicht, was ich in mein Tagebuch geschrieben habe. Dann noch eine Antwort zu bekommen, war Kommunikation. Das war hilfreich, denn ich brauchte einfach auch die Kommunikation. Gerade oben im Norden war das nicht gegeben, nicht jeder hat sich mit mir unterhalten und das war der Ersatz dafür. Das habe ich durchgezogen.
Sie haben zahlreiche Länder durchquert. Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Deutschland, Österreich, Italien. Über Sizilien sind sie dann nach Malta gekommen. Wie haben Sie denn die verschiedenen Kulturen erlebt?
Ich muss sehr differenziert darauf antworten. Ich fand die Norweger und Schweden sehr korrekt, sehr fein, sehr liebenswürdig, anfangs jedoch auch ein wenig verschlossen. Die Italiener sind direkt. Italien selbst habe ich als sehr schmutzig erlebt. Dies hat wohl mit der Einstellung der Italiener zutun. Die schönsten Stellen sind vollkommen zugemüllt. Nicht nur mit Hausmüll, sondern auch ganzen Wohnungseinrichtungen. In Italiens schönsten Seen liegen alte Kühlschränke. Die Straßenränder sind zugemüllt. Das habe ich als schmerzhaft empfunden, muss ich wirklich sagen. Als ich nach Malta übersetzte, dachte ich, so geht es weiter. Im Hafen von Valetta war es nicht sehr sauber. Aber die Stadt ist herausgeputzt, nirgendwo liegt Müll und überall wird gefegt. Das habe ich als wohltuend erlebt, denn diese wunderschöne Natur, diese wunderschönen Gebäude, diese wunderschöne Stadt, bekommt so viele Abstriche, wenn ich nur Müll sehe. Ich fühle mich dann nicht mehr wohl. Die Einstellung zu den Dingen und zu der Natur ist in den verschiedensten Ländern sehr unterschiedlich. Sie ist hervorragend in Skandinavien, finde ich. Deutschland hält die Waage, Italien ist der absolute Umbruch und Malta ist wieder ganz anders eingestellt, ein ganz anderes Erleben.
Sie sind vor allem in Italien an an sehr vielen Gedenkstätten für verunglückte Autofahrer vorbeigekommen. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Es hat mich tieftraurig gemacht. Ich habe mir sehr viele davon angeschaut. Zu neunzig Prozent sind es junge Männer, die gestorben sind. Wenn ich deren Fahrstil erlebe, denke ich, dass es mit dem Autofahrstil zu tun hatte. In Italien gibt es auf die Einwohnerzahl hochgerechnet ungefähr vierzig Prozent mehr Todesfälle als in Deutschland. Es ist so schmerzhaft und erschreckend, wie viele junge Leben so keine Chance bekommen.
Mir geht es nicht um Schuld, sondern einfach nur um die Leichtigkeit, über so etwas hinweg zugehen. Ich habe einen Unfall erlebt, bei dem ich Erste Hilfe geleistet habe. Ein Fahrradfahrer war vom Autofahrer angefahren worden. Er lag halb bewusstlos auf der Straße. Keiner kümmerte sich um den Mann und drei Leute stritten über irgendetwas, das ich nicht verstand. Es ist leichter, ein Wegkreuz aufzustellen, als sich um den Verletzten zu kümmern, dachte ich mir.
Was haben Sie dann gemacht?
Ich bin so lange geblieben, bis der Mann wieder bei Bewusstsein war. Dann haben wir ihm angesprochen. Nachher konnte er sich auch aufrecht setzen. Danach bin ich weitergegangen.
Weitergehen möchten Sie auch in Zukunft. Es ist noch geplant, dass Sie von Ost nach West pilgern, also eine Strecke von Istanbul nach Santiago de Compostela. Das sind 3.700 Kilometer. Das machen Sie dann doch mit links, oder?
Mit links mache ich das nicht. Ich bin trotzdem froh, dass es kürzer ist. Ich hatte grob 4.000 Kilometer eingeplant, da ich noch nicht weiß, welche Route ich dann nehmen werde. Es wären ungefähr 160 Tage. Das könnte ich Ende diesen Jahres abgeschlossen haben, sofern es mir gelingt Mitte Mai zu starten.
Das Interview führte Oliver Kelch | domradio.de