parallax background

Erinnerungen: Niemand war‘s und keiner hat’s gesehen

2. Dezember 2020

„Nichts von dem, was hier über die Arbeit als Gefängnisseelsorger und die Erlebnisse dort niederschreibe, ist wahr; obwohl sich alles fast so ereignet hat. Der Haken? Ich kann nichts beweisen. Darum ist es nicht wahr. Meine Erfahrung in mehr als 13 Jahren Tätigkeit im Strafvollzug ist: nicht das gilt, was geschehen ist; sondern nur, was belegt und bewiesen wird. Ferner: Beweise und Belege werden so zurechtgebogen, dass sie „dem Laden in den Kram passen“. Ich „weiß“ das nur. Da mir die Beweise fehlen, etliche „verschwunden“ sind, und ich auch nicht an die erforderlichen Unterlagen herankomme, ist das nicht wahr. Fakten allein haben keine Bedeutung.“ Ernst Lauven arbeitete bis 1996 in der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Werl. 25 Jahre danach schreibt er seine Erinnerungen auf. Ob sie heute wieder in dieser oder ähnlicher Weise erfahren werden?

Ein Beleg ist etwa das Wort eines wichtigen Mannes: „Von mir aus können Sie 600 Knackis als Zeugen anschleppen; ich werde immer eher einem Beamten glauben.“ Meine stille Ergänzung: wie verlogen er auch sein mag. Am Ende dieses Gespräches – es war mein letztes mit ihm – entrüstete er sich mit der Frage: „Wird hier denn nur noch gelogen?“ Glücklicherweise hatte ich einen Zeugen, der einen brisanten Vorgang so bestätigte, wie ich ihn dargelegt hatte; sehr viel anders, als er sich von der Anstaltsleitung hatte weis machen lassen. Viele, auch bittere Erfahrungen hatten mich gelehrt, wem ich glaubte und wem besser nicht. Die Grenze verlief nicht zwischen Beamten und Inhaftierten. Vielfach waren Inhaftierte glaubwürdiger als gewisse Beamte!

Wer die Macht hat, bestimmt, was Recht ist. Er befindet darüber, was „wahr“ ist. Er hat das Gesetz im Rücken. Mehr nicht. Aber: darum hat er Macht. Dadurch wird überflüssig, „alle Beede“ zu hören und Gerechtigkeit walten zu lassen. Aus dem Französischen soll stammen, dass Recht und Gerechtigkeit nichts miteinander zu tun haben außer der Wortwurzel. Der Selbstmord eines Inhaftierten in der JVA Werl wurde auffällig lange nach außen hin verschwiegen. Eine Tageszeitung bekam Wind davon und brachte die Meldung Tage später. Ein Mann hatte sich an einem Samstag im Freizeitraum erhängt. Weil er als suizidgefährdet galt, war viertelstündige Kontrolle angeordnet. Am Sonntagmorgen sagte in heller Empörung ein junger, mir nicht bekannter Beamter auf Stand I: „Da hat einer von uns Scheiße gebaut“, und berichtete vom Selbstmord: „nur weil der seinen Arsch nicht hochgekriegt hat.“ Der Aufsicht führende Beamte hätte eine Sportsendung angesehen. Vor und nach dem Gottesdienst kamen Inhaftierte und erzählten unabhängig und übereinstimmend, was der junge Beamte berichtet hatte. Ergänzend fügten sie hinzu: „Jetzt endlich werden Köpfe rollen“; „Das können die nicht mehr vertuschen“; „Das ist der 6. Selbstmord in drei Jahren und das sind einige zu viel“. Tags drauf kursierte das Wort eines Beamten: wir werden verhindern, dass einer von uns ‘geschlachtet’ wird; ‚Ende der Durchsage’.

Was haben „Zeugen“ wohl „bezeugt“, damit kein „Kopf rollt“ und niemand „geschlachtet“ wurde? Und: wer hat was dazu beigetragen? Einer der Zeugen fand sich plötzlich im „offenen Vollzug“ wieder. Das sei ihm zugesagt worden, falls er seine erste Aussage zurücknähme, die arg belastend war. Andernfalls könne niemand vorhersagen, was passiert. Kurz zuvor war die Stellungnahme so verheerend, dass er sich den „offenen Vollzug abgeschminkt“ hatte. Er hatte „verstanden“. Die miese Beurteilung existierte nicht mehr. Niemand hatte mehr eine Erinnerung an sie. Ich erhielt einen Brief mit Einzelheiten des Vorfalls; mit der Bitte um Hilfe und gleichzeitigem Verbot, ihn so zu verwenden, wie es nötig war. Er sei ja nicht lebensmüde! Mir waren Hände und Zunge gebunden. Echt: ‚Knast-Spiel: niemand war’s und keiner hat’s gesehen. Der „Fall“ wurde ordnungsgemäß geprüft, die Akte geschlossen, ein ahndungswürdiges Versagen nicht festgestellt. Ein Beamter wechselte lediglich die Abteilung. Aber: alles ist nicht „wahr“. Ich kann nichts belegen; unabhängig davon, wie viele darum wissen. Und schweigen, vertuschen und unterdrücken. Sie haben die Macht und sind im Recht. Meine Notizen sind Makulatur?

Bitter

Erster Samstag. Ich wollte nur mal eben sehen und hören, ob und was es in der JVA gibt. Als ich in der Pforte stehe, kommt ein Anruf. Der Beamte sagt, nachdem er sich um sich geschaut hat: „Ja, der steht noch hier.“ Nach einer Weile: „Gut, ich sage es ihm.“ Dann wendet er sich an einen jungen Mann im Nebenraum und sagt: „Sie werden gleich hier abgeholt; der Urlaub ist gestrichen.“ Der Inhaftierte fragt in heller Aufregung: „Wieso? Das können Sie doch nicht machen!“ Ganz ruhig und begütigend sagt der Pforten-beamte: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht. Vielleicht fehlt nur eine Unterschrift.“ Etwa eine Stunde später verlasse ich die Anstalt und frage im Rausgehen, weshalb der Urlaub „gestrichen“ worden ist. Der Beamte sagt: „Irgendwo ne bl-de Sache. In seiner Arbeitshose war eine Tablette. Vor der JVA stehen einige Leute zusammen. Eine Frau kommt auf mich zu und ist sichtlich ärgerlich: „Wir stehen jetzt schon fast zwei Stunden hier. Mein Sohn soll in Urlaub kommen. Eben war der doch schon an der Tür. Seit über einer Stunde ist er weg. Was ist denn jetzt schon wieder los?“ Ich frage nach dem Namen des Sohnes, gehe zur Pforte zurück und erfahre dort, dass es sich um den jungen Mann handelt, dessen Urlaub „geklatscht“ worden war. Mir wird mulmig, als ich zur Mutter zurückgehe, um ihr das mitzuteilen. Gleichsam meine erste Amtshandlung Angehörigen gegenüber.

De Familie ist wie versteinert; die Mutter fängt heftig an zu weinen, der Vater schimpft auf die „verdammte Willkür der Scheiß – Justiz“, eine junge Frau -wohl die Freundin- schluchzt still in sich hinein, ein junger Mann wendet sich kopfschüttelnd ab. – Ich möchte Hintergründe oder Zusammenhänge wissen, gehe noch mal zur Pforte zu-rück und frage nach. Der Pfortenbeamte zuckt mit den Schultern: „Ich weiß nicht mehr. Das kommt schon mal vor; so traurig es ist.“ Dienstag drauf – der Montag galt als „Pastorensonntag“- ging ich zu der Abteilung, auf der der junge Mann untergebracht war – den Namen hatte ich mir gleich aufgeschrieben.“  „Dass die sich gegenseitig so was antun!?“ In mir stiegen Wut, Trauer und Ärger hoch.  „So was gibt es öfter. Wenn ich nichts kriege, sollst du auch nichts haben.“

Entsetzen

Eine Woche später nehme ich an der Frühbesprechung der „Aufsichtsdienstleiter“ (so hießen die damals noch) teil. Die Atmosphäre ist bedrückend. Keiner sagt ein Wort. Dann poltert einer los: „Es hat doch keinen Zweck. Wenn er schon mal da ist, soll er es auch gleich wissen.“ Da sich die Blicke aller auf mich richten, merke ich, dass ich gemeint bin. Tags zuvor, also am Montag meiner 2. Woche, hatte ein Häftling auf der Fahrt in ein Krankenhaus bei Münster versucht, einen Beamten als Geisel zu nehmen, um fliehen zu können. Der Inhaftierte trug Handschellen und hatte im Bulli im Rücken eines jungen Beamten gesessen. Während der Fahrt holte er trotz Fesselung ein gebasteltes Messer aus seinem After, setzte es zusammen, sprang den Anfänger von hinten an und wollte ihm das Messer an die Gurgel setzen. In einer Blitzreaktion schrie der auf, der Fahrer nahm eine Vollbremsung vor, so dass der Inhaftierte über die Lehne gedrückt wurde und der junge Beamte unter ihm wegrutschte. Jedoch nicht weit genug. Der Inhaftierte erreichte ihn, stach mehrmals auf ihn ein und verletzte ihn sehr.

Mir war flau geworden. Nach einer Weile fragte ich nach dem jungen Dienstanfänger: ob, wie und wo ich den erreichen könnte. Vorerst sei das nicht möglich, erfuhr ich kurz und knapp. Der Inhaftierte war auf der Sicherheitsabteilung mit allen nur denkbaren Maßnahmen. Total abgeschottet. Umgeben von wütenden und drohenden Mitgefangenen und Beamten. Als ich erfuhr, wie krank der Täter war; er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, aus „dem letzten Loch pfiff“ und in das Krankenhaus gefahren werden sollte, um den – wahrscheinlich – letzten Herzschrittmacherwechsel vornehmen zu lassen, packte ich mich innerlich an den Kopf: was geht in einem solchen Mann vor; wie kann einer nur so dämlich sein? Das kann doch alles nicht wahr sein! Eine verrückte Welt, ein Irrenhaus! Ab sofort saßen die begleitenden Beamten hinter den Inhaftierten.

Nach einigen Tagen übermittelte mir ein Bediensteter, der betreffende Inhaftierte bittet um ein Gespräch mit mir; er war früher mal Katholik. Mein Herz rutschte mir irgendwohin. Zunächst erkundigte ich mich bei S + O (Sicherheit und Ordnung = dem Sicherheitsinspektor), ob und wie das möglich sei. Der riet mir davon ab, schickte mich vorsichtshalber zum zuständigen Abteilungsleiter, einem Oberregierungsrat. Der erklärte mir unumwunden: er wäre gegen einen Besuch von mir bei „diesem Kerl“; doch er könne ihn mir nicht untersagen; auf jeden Fall sollte ich vorsichtig sein und stets einen Beamten in der Nähe haben; der Mann sei unberechenbar. In der Zelle fand ich ein armseliges Würmchen vor. Wenn ich nicht gewusst hätte, was geschehen war, dem, der da saß, hätte ich das nicht zugetraut. Er sprach von seiner Angst: „die wollen mich hier kaputtmachen“. Die totale Isolation mache ihn fertig. Keinen Menschen sehen oder hören. Nichts zu rauchen, kein Radio; an Fernsehen nicht zu denken. Niemand rede mit ihm. Wenn das so weiterginge, würde er Schluss machen. Ich spreche ihn auf die missglückte Geiselnahme an, was ihm sichtlich peinlich ist. Sein Motiv war: da er nicht mehr lange lebe, wollte er wenigstens noch eine Weile die Freiheit genießen. Als ich ihn frage, wieviel hundert Meter die denn gedauert hätte, wo er doch kaum Luft bekomme, schaut er mich verständnislos mit großen Augen an.

Eines Montags – den „Pastorensonntag habe ich bald gestrichen – kam auf dem „Spiegel“, dem Kreuzungsbereich der vier Altbauflügel, ein jüngerer Mann auf mich zu, den ich noch nicht gesehen hatte. Bei den etwa 1500 neuen Gesichtern kam das immer wie-der vor. Das brachte es mit sich, dass ich mich jeden Tag etliche Male vorstellte. So auch jetzt. Es war der Beamte, der bei der versuchten Geiselnahme verletzt worden war. Sofort hatte ich einen seltsamen Druck in der Magengegend. Als ich mich entschuldigen wollte, weil ich ihn nicht besucht hatte, fiel er mir ins Wort: „Sie sind der Erste, der mich überhaupt darauf anspricht!“ Wir unterhielten uns ein Weile, wobei ich erfuhr, dass dies sein erster Dienst nach dem Vorfall war. Ich: „Und wie ist der für Sie?“ Er: „Als ich die erste Zelle aufschloss, stand ich diesem Gefangenen. gegenüber!“ Ich, entsetzt: „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Da ist Ihnen doch sicher der Schrecken in die Glieder gefahren.“ Er: „Das können Sie wohl sagen.“

Sofort ging ich zum LAV, dem Leiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes, und fragte zaghaft an, ob es in der JVA keine andere Möglichkeit gebe, als diesen Beamten ausgerechnet auf der Abteilung einzusetzen, auf der betreffende Inhaftierte untergebracht war. Und ich erzählte, was dem widerfahren war. Betretene Gesichter im Büro. Anschließend suchte ich den zuständigen Abteilungsleiter auf, den der Vorgang zu belustigen schien. Ungläubig fragte ich, ob es möglich sei, dass während der sechs Wochen niemand von der Anstaltsleitung mit dem Mann gesprochen oder sich wenigstens erkundigt habe, antwortete er – nicht mehr so lustig: „Das kann man ja noch nachholen; Sie haben Recht, das wäre wohl nötig.“ Gleich in den ersten Monaten kam mir häufig das Wort in den Sinn: Wenn das am grünen Holz geschieht, was wird erst mit dem dürren?

 Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert