Daniel Göbel. Hessische/Niedersächsische Allgemeine.
Ein Mann aus Darmstadt saß sechseinhalb Jahre unschuldig im Gefängnis. Er wurde vor dem Landgericht Kassel freigesprochen. Obwohl sein Leben nie wieder so sein wird, wie es einmal war, verspürt Thomas Biermann (Name geändert) keine Wut. Der 55-jährige Darmstädter will einfach nur zur Ruhe kommen. Sechseinhalb Jahre saß der achtfache Familienvater in der Justizvollzugsanstalt Butzbach ein. Das Landgericht Darmstadt hatte es als bewiesen angesehen, dass Biermann zweimal seine Ehefrau vergewaltigt hatte.
Doch die Geschichte sollte eine dramatische Wendung nehmen – Biermann ist nämlich unschuldig. Das hat das Kasseler Landgericht in einem aufwendigen Wiederaufnahmeverfahren entschieden – seit kurzem ist das Urteil rechtskräftig. In dem auf 50 Seiten begründeten Freispruch attestiert das Landgericht Kassel der geschiedenen Frau von Biermann, in dem Verfahren in Darmstadt mehrfach aus Kalkül gelogen zu haben. Sie habe sich dabei von Eifersucht und finanziellen Vorteilen leiten lassen.
Falsches Geständnis provoziert
Für Biermann ist das Urteil eine späte Genugtuung – nicht mehr und nicht weniger. Weil er in einem der beiden Vergewaltigungsprozesse vor dem Landgericht Darmstadt ein einsilbiges falsches Geständnis abgelegt hatte, verwehrt ihm das Landgericht Kassel nun aber für einen Teil seiner verbüßten Haft jegliche Entschädigung. „Lediglich eine sogenannte immaterielle Haftentschädigung steht meinem Mandaten zu“, erklärt sein Anwalt Hartmut Lierow.
Das bedeutet, dass Biermann für sechseinhalb Jahre Haft etwa 33.000 Euro erhält. Das falsche Geständnis gab Biermann nach mehreren Monaten Untersuchungshaft und nur wenigen Minuten Bedenkzeit ab. Das Landgericht Darmstadt stellte ihn vor die Wahl: Entweder fünf bis sechs Jahre – oder zwei Jahre und elf Monate plus der Aussicht auf vorläufige Haftverschonung und die Chance, seine Kinder sehen zu können. „Solche falschen Geständnisse werden provoziert, wenn die Schere für eine Bestrafung mit oder ohne Geständnis sehr weit auseinandergeht“, kritisiert Lierow, der auch dem wegen Vergewaltigung zu Unrecht verurteilten Lehrer Horst Arnold zu später Gerechtigkeit verholfen hatte.
Ihren Lauf nimmt die Geschichte im Jahr 2016. Biermann lebt mit seiner Frau und den acht gemeinsamen Kindern zusammen. Das Eigenheim hat er gemeinsam mit helfenden Händen selbst gebaut. Die Kinder werden streng christlich erzogen, heißt es in einem Schreiben von Anwalt Lierow. Biermann lebt in dieser Zeit von Hartz-IV, eine Frühverrentung aus gesundheitlichen Gründen scheiterte an einer fehlenden Rentenbeitragszeit von einem Monat. Bereits seit Jahren führt Biermann laut seinem Anwalt Parallelbeziehungen zu anderen Frauen.
Weniger Haftzeit, wenn geständig
Dies wirft ein schlechtes Licht auf Biermann, als er sich plötzlich vor dem Landgericht Darmstadt wiederfindet. Bereits am zweiten Prozesstag signalisiert das Gericht, dass die Aussagen der Ehefrau glaubwürdig erschienen. Daher verzichtet das Gericht darauf, einen psychologischen Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Ehefrau hinzuzuziehen. Nach dem Geständnis ist für das Gericht die Sachlage eindeutig und der Fall erledigt.
Immerhin wird Biermann aufgrund seines falschen Geständnisses aus der U-Haft entlassen. In diesen Tagen lebt er wieder zuhause. Als sie mit einem auf dem Heimcomputer installierten Spionageprogramm entdeckt, dass Biermann mit anderen Frauen telefoniert und schreibt, zeigt sie ihn wegen einer angeblichen Bedrohung an, die sie bei der polizeilichen Vernehmung dann als weitere Vergewaltigung darstellt. Biermann wandert sofort wieder in Haft. Auch im zweiten Verfahren unterbreitet das Gericht Biermann weniger Haftzeit, wenn er geständig sei. Diesmal lehnt Biermann dies aber entschieden ab. Die Quittung erhält er prompt: Vier Jahre und drei Monate Gefängnisstrafe. Hinzukommen weitere zwei Jahre und elf Monate für die vorige Verurteilung.
Überraschende Wende für den Vater
Im dritten Haftjahr bekommt Biermann dann Besuch von seinem Bruder. Der gesteht ihm, mit dessen Frau schon lange vor seiner Inhaftierung eine Beziehung aufgenommen zu haben. Von der Verurteilung seines Bruders will er zunächst nichts gewusst haben. Ahnungslos, so berichtet er, habe er die Frau zu ihrer Zeugenvernehmung im zweiten Strafverfahren gefahren. Sie habe ihm erklärt, es handele sich um eine private Angelegenheit. Während über Biermann verhandelt wird, hat sich die Frau bereits mit dessen Bruder verlobt und eine gemeinsame Zukunft geplant. Dem Gericht gegenüber gibt sie gleichwohl an, aufgrund der erlittenen Vergewaltigung nicht mehr in der Lage zu sein, zu einem Mann eine Beziehung zu unterhalten. Dennoch muss Biermann weiter hinter Gittern ausharren. Als verurteilter Vergewaltiger hat er keine Hafterleichterungen und steht in der Knasthierarchie weit unten.
Schließlich erreicht Lierow ein Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Kassel. Das Gericht kommt nach einer „umfangreichen und gründlichen“ Beweisaufnahme, zu dem Schluss, dass deutliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen, sagt Oberstaatsanwalt Andreas Thöne. Das Kasseler Landgericht vernimmt 28 Zeugen und bewertet entlastende Schriftsätze. Allerdings gibt die Frau noch immer nicht zu, gelogen zu haben. Doch damit kommt sie nicht mehr durch. Das Landgericht Kassel sieht es als bewiesen an, dass sie in den Verfahren gelogen und eine Fähigkeit zur Manipulation unter Beweis gestellt habe. Welche Strafe auf die Frau zukommt, ist unklar. Biermann hat kein Interesse daran, dass seine Ex-Frau der Strafverfolgung ausgesetzt wird, lässt er über seinen Anwalt verlauten. Er hoffe, dass aus den Fehlurteilen Lehren gezogen werden.
Mit freundlicher Genehmigung: Hessische/Niedersächsische Allgemeine
Fehlurteile – Wenn deutsche Gerichte sich irren
Der Fall Thomas Biermann ist nicht der erste dieser Art. Schon mehrfach fällten Gerichte in Vergewaltigungs- oder Missbrauchsverfahren falsche Urteile, die für großes Aufsehen sorgten:
Zu Unrecht werden 1995 der Kraftfahrer Adolf S. und dessen Schwager Bernhard M. vom Landgericht Osnabrück zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Tochter von Adolf S. hat die beiden Männer der Vergewaltigung bezichtigt. Zudem soll S. mit einem Kleiderbügel einen Abtreibungsversuch unternommen haben. Nachdem Vater und Onkel ihre Haftzeiten vollständig verbüßten, kommt es zu einer Wende im Fall. 2002 veröffentlicht die Gerichtsreporterin Sabine Rückert in der Zeit Ergebnisse ihrer Recherchen und konstatierte einen Justizirrtum. Sie kritisiert, Adolf S. und Bernhard M. seien einem verblendeten Kreis von Unterstützern der Belastungszeugin zum Opfer gefallen.
2001 wird Thomas Ewersvon seiner früheren Lebensgefährtin Claudia K. der zweifachen Vergewaltigung bezichtigt. Trotz widersprüchlicher Aussagen von Claudia K. verzichtet das Landgericht Dortmund auf eine von Ewers beantragte Glaubwürdigkeitsüberprüfung und verurteilt ihn zu sieben Jahren und zwei Monaten Haft. Kurz nachdem er die volle Haftzeit abgesessen hat, gibt das vermeintliche Opfer zu, die Tat frei erfunden zu haben, und wird wegen Freiheitsberaubung zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt.
Der Gymnasiallehrer Horst Arnold wird 2002 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Erst 2011 wird er wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Eine Arbeitskollegin hatte ihn der Vergewaltigung bezichtigt. Erst nach seiner Haftentlassung fällt der Frauenbeauftragten der Schule auf, dass sich das vermeintliche Opfer mehr und mehr in Widersprüche und Lügen verstrickt. Ihr Bruder, Rechtsanwalt Hartmut Lierow, erreicht ein Wiederaufnahmeverfahren, indem Arnolds Unschuld bewiesen wird. Auch hier ist es das Landgericht Kassel, was das Urteil des Landgericht Darmstadts aufhebt. Als Skandal wird empfunden, dass die Behörden Arnold trotz des rechtskräftigen Freispruchs die berufliche Rehabilitierung verweigern. Auch eine finanzielle Entschädigung kann er bis zu seinem Tod im Jahr 2012 nicht erreichen.
2004 wird Herbert Becker vom Landgericht Halle zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, die er unschuldig absitzt. Seine Tochter hat ihn fälschlicherweise der Vergewaltigung bezichtigt. Erst als die Tochter in den folgenden Jahren weitere Männer der Vergewaltigung beschuldigt und die Anschuldigungen immer abstruser werden, lässt die Staatsanwaltschaft die Frau begutachten. Herbert Becker erleidet in der Haft einen Herzinfarkt sowie nach seiner Entlassung einen Schlaganfall.
Fünf Jahre sitzt Ralf Witte wegen der angeblichen Vergewaltigung seiner Tochter ein. Das Landgericht Hannover hat ihn 2004 zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren und acht Monaten verurteilt. In einem Wiederaufnahmeverfahren wird er 2010 freigesprochen.
Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens ist nur unter strengen Voraussetzungen möglich, etwa wenn ein Zeuge zuungunsten des Verurteilten eine Falschaussage gemacht hat, wenn neue Tatsachen einen Freispruch bewirken könnten oder wenn eine unechte Urkunde zuungunsten des Verurteilten als echt bewertet wurde.