Über die Befreiung der „Politischen“ aus den westlichen Strafanstalten vor 75 Jahren: Was für die Auschwitzhäftlinge der 27. Januar 1945 war, war für die politischen Gefangenen im Strafgefängnis Bochum der 10. April 1945. Unter ihnen waren viele wegen Hochverrates verurteilte Kommunisten, „antideutsche“ Niederländer und noch etwa zweihundert belgische und französische Résistance-Gefangene. Am Tag der Befreiung sangen die Franzosen laut ihre Marseillaise.
Alle konnten nicht mehr einstimmen. Mindestens ein Dutzend von ihnen war wenige Tage zuvor beim Evakuierungsversuch per Güterzug am Nordbahnhof durch alliierte Bomben ums Leben gekommen. Die Inhaftierten wurden wieder in die Strafanstalt zurückgeführt. Auch der folgende Evakuierungsmarsch Richtung Celle scheiterte. Gefangene flohen. Andere wurden unterwegs entlassen. Die Kolonne kehrte nach vier Tagesmärschen wieder in die Anstalt zurück. Viele hatten Angst vor Erschießungen. Zu Recht! Am Ende traf es nur einen, Pfarrer Josef Reuland, der nicht weit von der Anstalt entfernt als Letzter der Kolonne einen Genickschuss erlitt und ins Haftlazarett zurück gebracht wurde. Er überlebte nur, weil zwei Mitgefangene, ein belgischer und ein niederländischer Arzt ihn versorgten, bis er ins Josephshospital in der Stadt verlegt wurde.
Unter den französischen Inhaftierten war unter anderen der Jude André Rossel-Kirschen. Als 15-Jähriger hatte er in Paris einen deutschen Offizier erschossen. Unter den Bochumer Politischen ist er der einzige, von dem eine Gewalttat bekannt ist. Die alliierte Stadtkommandatur überprüfte zunächst alle Résistancegefangenen. Sie wurden Anfang Mai entlassen. Per LKW kehrte auch Rossel-Kirschen über Brüssel, Lille nach Paris heim. Vater und Bruder waren als Verwandte eines Terroristen erschossen worden, Mutter und Schwestern in Auschwitz umgekommen.
Der Kommunist Werner Eggerath war seit über zehn Jahren wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Haft. Zwei Monate nach Kapitulation kam er frei und ging mit „unbeschreiblichem“ Glücksgefühl zum Bahnhof Bochum. Eine Woche blieb er bei der Familie, dann begann seine politische Arbeit. 1947 wurde er der erste frei gewählte Ministerpräsident von Thüringen. NS-nahe Wachtmeister waren mittlerweile aus dem Dienst entfernt worden. Im Zuchthaus Werl wurden die Bediensteten gezwungen, bei einem Pressefoto öffentlichkeitswirksam ihre Anstaltsschlüssel auf einen Haufen zu werfen. Im Remscheider Zuchthaus kam drei Wochen nach Befreiung Kaplan Joseph Rossaint frei. Er stellt fest: Autoritätsgläubigkeit und Untertanenmentalität sind noch immer lebendig.
Wie ging es mit Reuland weiter? Der Patient des Josephshospitals galt noch als Strafgefangener. Der Status wurde vom mittlerweile englischen Stadtkommandanten am 6. Juni aufgehoben. Am 18. Juni 1945 fuhr Reuland trotz Bedenken der Ärzte, abgeholt vom Pfarrverwalter, in sein Heimatdorf Greimerath. Am nächsten Tag in leitete man ihn in großer Prozession zur Kirche. Nie habe er ein Te Deum so froh und bewegt gesungen.
Alfons Zimmer | JVA Bochum