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Strafmündigkeit: Prävention und außerstrafrechtliche Intervention

30. März 2023

Das Tötungsdelikt von Freudenberg in Nordrhein-Westfalen durch strafunmündige Kinder hat die Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze wieder neu angestoßen. Als die Ermittlungen der Polizei ergeben, dass mutmaßlich zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren die Täterinnen sind, wird wieder eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von 14 Jahren vehemmt gefordert. Doch mit diesem Schritt ist nichts gelöst. Die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins zeigt dies deutlich auf.

Vor 100 Jahren wurde in Deutschland ein Jugendgerichtsgesetz eingeführt, das auf einem Entwurf des großen Strafrechtslehrers, Rechtsphilosophen und Justizministers Gustav Radbruch beruht. Einer der zentralen Punkte des Gesetzes und eine Errungenschaft war die Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf 14 Jahre. Nur kurz unterbrochen durch die nationalsozialistisch begründete Absenkung auf 12 Jahre („zum Schutze vor jungen charakterlich abartigen Schwerverbrechern“), hat sich diese Strafmündigkeitsgrenze seit 1953 bewährt. Es gibt keinen Grund, sie abzusenken. Daran ändern auch bestürzende Einzeltaten von noch nicht strafmündigen Kindern nichts.

Befriedigt Ressentiments

Die wie im Fall aus Freudenberg reflexhaft in die Öffentlichkeit getragene Forderung nach einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze befriedigt lediglich Ressentiments, geht aber an der Realität vorbei und wird den Kindern nicht gerecht, um die es geht. Kriminologisch lässt sich gerade keine immer früher einsetzende und immer schwerwiegendere Delinquenz feststellen. Ein solcher „Trend“ ist nicht abbildbar. Es trifft auch nicht zu und lässt sich psychowissenschaftlich nicht belegen, junge Menschen unter 14 Jahren seien heutzutage „reifer“ als früher.

Es geht mithin um Prävention, Früherkennung und (außerstrafrechtliche) Intervention. Das – und nicht: Strafe – ist das, was man den Kindern und jungen Menschen schuldet: dass man sie ernst nimmt, dass man ihnen Unterstützung und Chancen bietet, dass man frühzeitig Möglichkeiten schafft, um möglichst Delinquenz zu verhindern, die über das Bagatellhafte, Ubiquitäre hinausgeht. Wer dagegen nach Einzelfällen eine Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze fordert und die Vergeltung für jenen Einzelfall, der nicht ungesühnt bleiben dürfe, als erforderliche Antwort proklamiert, verkennt die Ziele des Jugendgerichtsgesetzes und stellt das Jugendstrafrecht in seiner überzeugenden Gesamtkonzeption auf den Kopf. Mit der Betonung und gar argumentativer Zugrundelegung absoluter Straftheorien entfernen sich die Befürworter:innen einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze von den leitenden Grundgedanken des Jugendgerichtsgesetzes, insbesondere des Erziehungsprimats, und tragen – ausgerechnet – den Allerjüngsten nicht länger Rechnung.

Entwicklung ist komplexer Prozess

Mit der Festlegung bestimmter Altersgrenzen – der Strafmündigkeitsgrenze (ab 14 Jahre), der relativen Strafmündigkeit Jugendlicher (unter 18 Jahre) und der Möglichkeit, Heranwachsende (unter 21 Jahre) nach Jugendstrafrecht zu sanktionieren – hat der Gesetzgeber aus gutem Grund die Besonderheiten der Entwicklungs- und Reifeprozesse junger Menschen berücksichtigt. Das findet insbesondere Ausfluss im Erziehungsgedanken, dem Kernstück des Jugendgerichtsgesetzes, und in der Fokussierung auf ein Täter-, nicht ein Tatstrafrecht. Es gibt keine validen (entwicklungs-)psychowissenschaftlichen Parameter, anhand derer man pauschalierend festmachen könnte, ab welchem kalendarischen Alter von „Reife“ auszugehen ist. Ihre Bestimmung ist im Rahmen des Jugendgerichtsgesetzes und -verfahrens schwierig und stellt die Beteiligten oft vor große Herausforderungen.

Entwicklung ist ein komplexer Prozess, den viele Faktoren beeinflussen (u.a. der genetischen Ausstattung, des Temperaments, des natürlichen und sozialen Umfeldes, der Kontextbedingungen und sozialen Entwicklungsaufgaben, inneren Verarbeitungsprozessen, Zufällen). Sie kennt keine kontinuierliche Dynamik im Sinne eines geradlinigen Fortschreitens, sondern ist geprägt durch Unterbrechungen, Pausen, Sprünge und Rückschritte. Es gibt erhebliche Varianzen zwischen verschiedenen Jugendlichen. Sie sind insbesondere bei der Ursachenforschung von Delinquenz auch feststell- und abgrenzbar. „Den“ oder „die“ Jugendliche/n, „den“ oder „die“ Heranwachsende/n gibt es nicht (und wie oft muss man im Strafrecht beobachten, dass zwar ein bereits dem Alter – und StGB – nach „erwachsener“ junger Mensch auf der Anklagebank sitzt, aber die Entwicklungsetappen derart defizitär und retardiert sind, dass man sich auch hier eine größere Flexibilität wünschte).

Gerade diese Variabilität wird regelmäßig psychowissenschaftlich und kriminologisch als wesentlich größer als in früheren Zeiten gesehen, wobei die sittlich-charakterliche Entwicklung häufig nicht Schritt hält mit ihrer körperlichen und teilweise intellektuell zu konstatierenden Akzeleration. Das Spannungsverhältnis zwischen kalendarischem Alter und tatsächlichem Entwicklungsstand, zwischen körperlicher Entwicklung und der – für das Jugendstrafrecht maßgeblichen – emotionalen, moralischen und sozialen Reife ist oft groß. Disharmonien der Entwicklung sind bei belasteten und delinquenten jungen Menschen häufig, was psychologisch zur Folge haben kann, dass der/die betreffende Jugendliche oder Heranwachsende in einzelnen Bereichen retardiert, in anderen Bereichen altersentsprechend entwickelt ist. Dieses Spannungsverhältnis gilt erst Recht bei Kindern, die selbst bei altersgerechter Entwicklung noch viel weniger Entwicklungsstufen durchlaufen haben als Jugendliche oder Heranwachsende.

Nicht orientiert am Tatstrafrecht

Vorfälle wie der aktuell medial beleuchtete bleiben nicht ohne Konsequenzen und staatliche Reaktionen. Sie können und dürfen aber nicht zu einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze führen. Wer das einerseits – teilweise „nur“ für schwerwiegende Vorwürfe – fordert, andererseits aber die Flexibilität der Reaktionsmöglichkeiten im Jugendgerichtsgesetz hervorhebt, spielt ein falsches Spiel. Welche genuin jugendstrafrechtlichen Instrumente sollen bei schwerwiegenden Vorwürfen zielführender sein als die bereits existierenden und durchaus einschneidenden der Jugendhilfe und notfalls des Familiengerichts (die über Maßnahmen der Erziehungshilfe bis hin zu Fremdunterbringungen in Pflegefamilien, Heimeinrichtungen, Kinder- und Jugendpsychiatrien führen können)? Oder geht es nicht tatsächlich – verbrämt durch absolute Strafzwecktheorien und orientiert am Tatstrafrecht – um Freiheitsentzug für Kinder? Dem ist mit Nachdruck entgegenzutreten. Die Strafmündigkeitsgrenze muss unangetastet bleiben.

Stellungnahme des Deutschen Anwaltverein durch den Ausschuss Strafrecht | Nr. 20/2023

 

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