Die Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen wird in Ihrer Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf durch den Evangelischen Gefängnisfürsorgeverein unterstützt und finanziell mitgetragen. Im Interview mit der Leiterin der diakonischen Beratung, Ulrike Wewer, spricht sie im Rahmen ihrer Tätigkeit über das intime und tabuisierte Thema der Sexualität in Haft. Der Knast schafft neben allen Entbehrungen eine Situation, auf der in Bezug auf die gemeinsame Sexualität und ihren Wert für die Beziehung auch gelernt werden kann.
Grundsätzlich hat die Haft einschneidende Folgen in Bezug auf Sexualität. Ich denke da an die ganz erheblichen Einschränkungen in der Intimsphäre: Briefe werden gelesen, Türen können plötzlich geöffnet werden usw. Haft bedeutet also nicht nur die Trennung von der Partnerin oder vom Partner, sondern noch viel mehr. Doch ist es nicht so, dass in der Haft keine Sexualität stattfindet. Das lässt sich durch viele Beobachtungen belegen, z.B. mit der oft eindeutig vorhandenen erotischen Spannung bei vielen Besuchen oder auch in Briefen. Selbst wenn beim Besuch sonst gar nichts geht: auch ein Blickkontakt kann ganz viel enthalten und sehr erotisch sein. Sexualität ist ja viel mehr als mit einander schlafen. Reiner Sex ist nicht das Ganze der Sexualität. Natürlich bedeutet Haft trotzdem eine Zeit ganz schlimmer Beschränkungen.
Lässt sich Sexualität also nicht unterbinden?
Körperlicher Sex lässt sich weitgehend unterdrücken, dafür gibt es viele Beispiele. Sexualität im Sinne von Erotik und Liebe hingegen nicht. Das zeigt auch die Geschichte, wenn z.B. durch die Kirche oder im Militär versucht wurde, Sexualität zu unterdrücken. Das gilt sicher auch für den Knast. Erotik, Sinnlichkeit und Liebe lassen sich nicht unterbinden.
Woran machen Sie das konkret fest?
Ich erlebe, dass Partner in ihren Briefen eine eigene Sprache mit erotischen Bedeutungen entwickeln, die nur sie verstehen. Bei Besuchen ist zu beobachten, wie sich der Inhaftierte Mühe gibt, auch im Aussehen, und die Frauen ziehen sich chic an, putzen sich oft für den Besuch heraus. Manchmal, wenn Beziehungen vorher auf erotischem Gebiet fast eingeschlafen waren, entwickelt sich während der Haftzeit von Neuem eine erotische Spannung.
Wie mag das kommen?
Dafür spielt sicher die Trennung eine Rolle. Der Besuch bekommt eine große Bedeutung, weil ja sonst fast nichts möglich ist; mancher Gefangene lebt nur für die Besuchstermine. Jedem ist klar: die Beziehung ist gefährdet. Darüber hinaus ist ja jedem im Knast klar, dass die Beziehung gefährdet ist, darüber wird ja auch unter Inhaftierten viel gesprochen, das weiß hier jeder. Und auch der Frau oder Freundin ist das klar. Die Gefahr macht den Wert der Beziehung bewusst – und es wird etwas dafür getan, dass sie eine Chance behält.
Hören wir das richtig: sie sehen auch Chancen in der Situation der Haft?
Sicherlich gibt es Beziehungen, die der Knast beschädigt. Aber indirekt schafft der Knast eine Situation, aus der etwas für die Beziehung gelernt werden kann – auch in Bezug auf die gemeinsame Sexualität und ihren Wert. Die Gefängnissituation führt dazu, dass die Partner lernen, sich in der Beziehung und für einander zu engagieren.
Können auch Beziehungen unter normalen Bedingungen daraus etwas lernen?
Immer wieder bestätigen mir Paare, wie gut es tut, sich eine Stunde ohne Ablenkungen gegenüber zu sitzen und sich mit einander zu beschäftigen. Das ist die Situation in der Beratung. Eine Unterhaltung ohne Ablenkung durch Alkohol oder Fernsehen kann in der Situation ein Beziehungs-Highlight bedeuten, für beide Partner, aber es täte auch draußen vielen gut.
In Ihren Beratungen: ist da die Sehnsucht nach körperlicher Nähe nicht größer als das Bedürfnis, miteinander zu sprechen?
Ich kann das verstehen, wenn das Bedürfnis nach Nähe ganz groß ist: aber da muss ich den Beteiligten dann sagen, dass ich in der Partnerschaftsberatung nicht auffangen kann, was den Paaren fehlt. Manche äußern Ihre Wünsche ganz offen. Obwohl ich das begreife, kann ich meine Beratungsstunden nicht dafür nutzen. Aber allgemein erlebe ich beides, vielleicht sogar mehr das Bedürfnis, zu sprechen. Das Thema Sexualität spielt selten eine herausragende Rolle. Konflikte und andere Dinge, die zu regeln sind, stehen meist im Vordergrund. Meist sind die Beziehungen ja auch vor der Haft nicht ohne Probleme und da muss Manches geklärt werden, bevor sich wieder etwas regt. Problembesprechungen und Bewältigung des Anstehenden stehen bei der Beratung im Vordergrund.
Wie wirkt sich der Sexualentzug im Gefängnis auf den Inhaftierten aus?
Aufgrund unbefriedigter Bedürfnisse macht der Knast die Beziehungen oftmals kaputt; aber die ganze Situation der Haft schädigt die Beziehung und auch die Person – nicht nur die Enthaltsamkeit.
Wie erleben Ehefrauen und Freundinnen die Trennung von ihrem Partner?
Auf jeden Fall wird eine Partnerin mitbestraft, genauso die Familie. Vor allem, wenn Kinder da sind, sehen sich Partnerinnen mit einem großen Berg von Problemen allein gelassen. Bei genauerem Hinsehen ist das oft so, dass das nicht erst seit der Inhaftierung so ist, dass sie mit Problembewältigungen und den Kindern auf sich allein gestellt war. Wenn Frauen dann in Ruhe nachdenken, stellen sie sich die Frage, ob sie wirklich weiter mit einem leben wollen, der sie und die Kinder allein lässt. Männer spüren das, können aber jetzt in der Situation der Haft überhaupt nichts gegen das Risiko tun. Das ist eine harte Situation, das auszuhalten. Aus Sicht der Frauen ist es ja einfach so, dass die Männer sich aufgrund der Haft ihrer Verantwortung entziehen – auch wenn diese das nicht wollen. Selbst die Umsetzung von guten Vorsätzen zur Besserung wird durch die Situation der Inhaftierung unterbunden.
Sie glauben also nicht, dass es der Sexualentzug ist, der zu Trennungen führt?
Manche Inhaftierte denken zu Recht: „Meine Freundin ist noch jung und sie hat ja auch Bedürfnisse.“ Sie haben dann Angst, dass die Frau sich einen „Neuen” sucht. Aber für eine Trennung ist das Fehlen von Sexualität in der Regel nicht der alleinige Grund, andere Gründe sind viel wichtiger. Wenn Frauen an Trennung denken, höre ich das nicht als vorrangigen Anlass. Ich sehe also keine kausale Verbindung zwischen Sexualentzug und dem Beenden von Beziehungen. Außerdem ist Sexualität, sind Erotik und Liebe ja auch viel mehr als nur körperliche Begegnung. Ich erlebe bei Partnerinnen von Inhaftierten eine hohe Bereitschaft, eine Durststrecke mit durchzustehen, auch wenn das große Not bedeutet und sie unter dem Fehlen von körperlicher Begegnung sehr leidet.
Gehen nicht die allermeisten Beziehungen kaputt – spätestens nach der Haft?
Nein! Das ist kein Prinzip. Oft trennt sich die Frau. Aber viele der Beziehungen halten auch und bestehen nach der Haft fort. Ich finde das bemerkenswert und erstaunlich. Bezifferbare Erfahrungen gibt es aber in diesem Bereich keine. Die Zeit der Haft ist zwar sehr schwierig für die Partnerschaft; aber wer weiß, ob eine Beziehung aufgrund von fünf Jahren Haft kaputt geht – oder ob sie ohne Knast nach fünf Jahren nicht auch kaputt gegangen wäre? Es ist ja nicht so, dass Beziehungen „draußen” immer halten. Die stehen ja heutzutage auch unter einem enormen Risiko, zu scheitern. Es gibt nicht die Logik: Knast bedeutet Trennung!
Und nach der Haft?
Da wird nicht automatisch alles einfacher, obwohl ja dann die Sexualität nicht mehr von außen erzwungen unterbunden ist. Manchmal zeigt sich, dass fantasierte Sexualität leichter ist, als sie wirklich zu leben. Manchmal erkennen Zwei, dass sie eigentlich nicht zusammen leben können. Ein andermal klappt es miteinander.
Ist es für die Paare leichter oder schwieriger, wenn sie Kinder haben?
Wenn Kinder da sind, halten die Paare meist mehr zusammen und sagen: Wir haben die Kinder nun mal und die brauchen uns Beide. Das geht allerdings nur dann, wenn die Partnerschaft ein gutes Fundament hat, auf dem sich aufbauen lässt. Seltener gibt es Frauen, die denken: Jetzt werde ich endlich den Vater meiner Kinder los; am Besten soll der ganz lange weggeschlossen bleiben. Aber dieser Gedanke ist Illusion. Die Kinder werden diese Frauen irgendwann an den Vater und eine gemeinsame Verantwortung erinnern. Manchmal geht es ja auch nicht in einer Partnerschaft weiter und es macht trotzdem Sinn, über die gemeinsame Verantwortung für die Kinder nachzudenken.
Fällt Ihnen sonst noch eine Veränderung ein, die Sie wünschen?
Was mir nicht zusagt, ist, dass im Gefängnis die Zellentür immer gleich schon im Moment des Anklopfens geöffnet wird. Respekt vor der Intimsphäre Inhaftierter. Ich würde mir wirklich wünschen, dass gewartet wird, bis einer „Herein!” ruft. Gefangene tun das, wenn ihre Türen aufgeschlossen sind, regelmäßig. Es muss einfach ein besonderer Schutz der Intimsphäre gewährleistet sein.
Es gibt ja im Gefängnis auch viele, die gar keine Liebesbeziehung oder Partnerschaft haben. Wie beurteilen Sie deren Situation?
Gerade hier sind viele, sehr viele, die haben widersprüchliche Erfahrungen in Bezug auf Sexualität gemacht. Ich kann verstehen, wenn Manche sagen: Ich finde das ganz gut so; ich möchte jetzt mit Sexualität und Beziehung nichts zu tun haben. Sexualität eignet sich ja sehr, um andere zu demütigen oder zu verletzen und um Gewalt anzutun – seelisch ebenso wie körperlich. Und manch einer hier hat auch Schlimmes getan; vielleicht vorher selbst auch Schlimmes erlebt, das kommt ja häufig zusammen. Natürlich sollte sich keiner Illusionen über nachher machen: Wenn ich wieder draußen bin, läuft alles wieder normal. Das ist ein Trugschluss. Draußen ist ja auch nicht alles einfach und Probleme lösen sich nicht von selbst. Es gibt keine Garantie, dass nach der Haft eine intakte Beziehung aufgebaut werden kann.
Aus: Ulmer Echo