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Sexualität, Gewalt + Homophobie: Folgen der Tabuisierung im Knast

22. Januar 2023

Eine als befriedigend erlebte Sexualität hat entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen (Beier et al., 2000; Schäfer et al., 2004). Die Lebensqualität und die seelische Gesundheit gefangener Menschen wird bereits durch den Verlust sozialer Sexualität mit den Folgen der Reduzierung auf Selbstbefriedigung, Objektivierung des anderen Geschlechts und Stimulation gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte – bei gleichzeitiger Tabuisierung – grundsätzlich beeinträchtigt.

Durch eine Verobjektivierung des weiblichen und des männlichen Körpers in Form von Postern an den Zellenwänden, Pornografie und einer starken Präsenz sexualitätsbezogener Gesprächsinhalte drückt sich der entfremdete Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen aus. Der Objektstatus des sexualisierten Körpers reduziert wiederum die eigene Empfindungsspanne und verleugnet die mit partnerInbezogener Sexualität assoziierten Bedürfnisse nach Gemeinsamkeit, Nähe, Entspannung und Befriedigung. Die „Totale Institution Gefängnis“ (vgl. Goffman, 1973) ist eine eingeschlechtliche Einrichtung – erst in den letzten Jahren gibt es Mitarbeiter im Frauenvollzug und Mitarbeiterinnen im Männervollzug –; erst darüber besteht eine Kontaktmöglichkeit zum anderen Geschlecht. Aber fehlende gegengeschlechtliche Interaktionen bringen es mit sich, dass das Thema Sexualität in den Köpfen der Gefangenen sehr präsent ist (Bammann & Rademacher, 2009, S. 188ff.).

Das Dilemma besteht in der Allgegenwärtigkeit von Sexualität im Gefängnisalltag und der stark eingeschränkten Befriedigung und letztlich erzwungenen Milieuanpassung sexueller Bedürfnisse. Daraus erwachsen Spannungen, Frustrationen, Aggressionen und sexualisierte Gewaltfantasien. Vorhandene Probleme mit diesem Dilemma können nicht besprochen werden, weil weder informelle noch offizielle Foren dafür im Vollzug zur Verfügung stehen. Zwar existieren Modelle in Strafanstalten, die im Rahmen von Langzeitbesuchen auf eine Ermöglichung auch sexueller Kontakte unter (Ehe-)PartnerInnen zielen (z.B. JVA Werl, JVA für Frauen Vechta) und lockerungsberechtigte Häftlinge können im Urlaub sexuelle Kontakte haben. Doch dies sind vereinzelte und isolierte Möglichkeiten, partnerInnenorientierte Sexualität zu leben. Neben der bedürfnisorientierten Sicht von Sexualität in Haft stellt sich auch die Frage nach dem Recht auf Erfüllung eines Kinderwunsches für Inhaftierte und deshalb die Unterstützung sexueller Kontakte zu ihren Partnern (vgl. Jacob & Stöver, 1997).

In Haft ist Sexualität ein Tabu – scheinbar von allen Akteuren geachtet; Symbolisierungen sind allgegenwärtig. Unterschwellig scheint das „Verbot“ der Ausübung von Sexualität nach wie vor als Teil der Strafe angesehen zu werden – so wie bspw. eine schlechtere Gesundheitsversorgung oder Nahrung. Eine Gefängnisstrafe scheint – nach landläufiger und medialer Meinung – auch Enthaltsamkeit von Vergnügen und Lust zu beinhalten. Weil Sexualität individuell abgespalten werden muss und die Thematik Sexualität im Vollzug offiziell ausgeblendet wird, finden alle Formen gelebter sozialer Sexualität mehr oder weniger verdeckt statt: Im Männervollzug ist Sexualität zwischen Gefangenen vollkommen tabuisiert, körperliche Berührungen sind suspekt, gleichgeschlechtliche Sexualität wird abgewertet. Im Frauenvollzug sind gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen eher ein offenes Geheimnis: frau spricht von der „Zimmerlinde“ (Partnerin).

Im homophoben Kontext kaum thematisierbar

Die besonderen Haftbedingungen führen zur Entstehung einer eigenen sexuellen Subkultur, die sich von der Sexualität außerhalb der Haft unterscheidet und die auch nur im Rahmen ungleicher Macht- und Gewaltverhältnisse erklärbar ist (vgl. Linden, 2008). Das sexuelle Verhalten im geschlossenen Vollzug stimmt in vielen Fällen nicht mit den tatsächlichen sexuellen Wünschen und der sexuellen Identität überein (vgl. Siemer, 1998, S. 111ff.). Es gibt eine Realität von gleichgeschlechtlicher Sexualität, die in einem homophoben Kontext kaum thematisierbar ist. Geheimhaltungsdruck, Angst vor einem Hinaustragen von Informationen an Partner/innen, Familienangehörige und Freunde draußen verstärken sich vor allem dann, wenn die in Haft gelebten homosexuellen Kontakte nicht dem eigenen sexuellen Selbstverständnis „heterosexuell“ entsprechen, was bei vielen Inhaftierten der Fall ist, die in der Inhaftierungszeit in Ermangelung heterosexueller Möglichkeiten homosexuelle Kontakte als „Notlösung“ praktizieren. Sozio-kulturelle Barrieren einer Zwangsheterosexualität als gesellschaftliche Normalität und Homophobie wirken in dieser doppelten Realität der sexuellen Identität, die sich in der praktizierten Sexualität im Vollzug nicht wiederfindet. Wenn diese „Notlösungen“ über lange Zeit zur Gewohnheit sexueller Aktivität werden, repräsentieren sie Normalität unter den Inhaftierten, ohne offizielle Anerkennung und Verantwortungsübernahme. So entwickelt sich Homosexualität als Dunkelfeld, wo Prostitution z.B. zur Begleichung von Schulden oder Drogenbeschaffung stattfindet und wo Vergewaltigungen geschehen – ohne offen als Realität anerkannt zu werden.

Infektionsprophylaxe

Gerade unter dem Aspekt „Infektionsschutz“ erhält die verdeckte gleichgeschlechtliche Sexualität Relevanz. Während weibliche Homosexualität als wenig infektionsrisikobehaftet gilt (HIV/AIDS), ist männliche Homosexualität aufgrund riskanter, ungeschützter Sexualpraktiken aus infektionsprophylaktischer Sicht als möglicher HIV-Transmissionsweg zu bewerten. Müller (1997, S. 356f.) macht erhöhte HIV-Risiken für Männer aus, die gelegentlich Sex mit Männern haben, die auch auf andere sexuell übertragbare Krankheiten anzuwenden sind und gerade auch im Justizvollzug besondere Bedeutung erlangen: „[E]s findet keine Identifikation mit den ›schwulen Risiken‹ der HIV-Infektion statt“ (ebd.). Deshalb wird das konkrete HIV-Risiko oft unterschätzt oder negiert; insbesondere bei Jugendlichen spielen die Lust am Abenteuer und Unverletzlichkeitsfantasien eine Rolle. Zum defizitären Selbstbewusstsein kommen Selbstablehnung, Selbsthass, starke Scham- und Schuldgefühle hinzu. Das können die entscheidenden Ursachen für mangelnde Kommunikations- und Aushandlungsfähigkeit bezüglich Sexualität insgesamt und „Safer Sex“ im Besonderen sein. Dies führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zur verstärkten Anpassung an Initiativen und Wünsche der Sexualpartner, z.B. nach dem „unsafen Sex“ (vgl. Bammann & Rademacher, 2009). Selbst wenn eine Zugänglichkeit zu Kondomen und wasserlöslichem Gleitmittel in der Anstalt gewährleistet ist, was nicht durchgängig selbstverständlich, kostenlos oder zumindest kostengünstig, niedrigschwellig, vertraulich und anonym in deutschen Haftanstalten. […]

Sexuelle Funktionsstörungen

Das in der Öffentlichkeit vermittelte, und auch in Haft durchaus präsente, Männlichkeitsbild mit Zuschreibungen wie „stark, sexuell omnipotent und immer bereit […], lässt die normalen, individuell vielfältigen Abweichungen von der ›Norm‹ außer Acht“ (RKI, 2014, S. 78). Bei den Inhaftierten können der so entstehende Zwiespalt zwischen öffentlich vermittelten Ansprüchen und der Wirklichkeit sowie der damit verbundene Leistungsdruck zu einer tiefen Verunsicherung führen. Fragen können sein: „Was ist meine Sexualität noch wert?“, „Kann ich ohne Pornos noch kommen?“, „Wie machen es die anderen Gefangenen?“, „Ist meine Lust/Lustlosigkeit normal?“, „Kommt die Lust wieder?“, „Kann ich nach der Haftentlassung eine befriedigende Sexualität mit meiner Partnerin, mit meinem Partner leben?“

Antworten auf diese Fragen werden im Vollzug nicht oder allenfalls über VertreterInnen der AIDS-Hilfen gegeben. Fragen nach sexuellen Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen des sexuellen Verlangens (Appetenz), der sexuellen Erregung sowie dem sexuellen Erregungshöhepunkt (Ejakulation/Orgasmus) können nicht beantwortet oder erst gar nicht gestellt werden. Der Austausch über Fragen der Sexualität wird von den meisten Menschen als privat und intim empfunden. Demzufolge kann man in wissenschaftlichen Betrachtungen zum Thema Sexualität und Haft oftmals nicht von „berichteten Fällen“ ausgehen. Vielmehr ist anzunehmen, dass es zu einer Untererfassung kommt, wenn man sich als Forschende/r nur auf Berichtetes stützt. Ihr Schweigen und „Aussitzen“ kann Leidensdruck bei den Betroffenen selbst erzeugen, die Unsicherheiten können sich aber auch auf die Partnerschaft und andere Lebensbereiche auswirken. Eine fachübergreifende Zusammenarbeit von Andrologie, Urologie, psychosomatischer Medizin und Psychiatrie ist bspw. bei sexuellen Funktionsstörungen erfolgversprechend, doch diese Kooperation kann in der Regel im Justizvollzug nicht organisiert werden.

Sexuelle Gewalt

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (Bieneck & Pfeiffer, 2012, S. 31ff.) hat in einer Studie 2012 in Nord- und Ostdeutschland die Gewalt von Gefangenen untereinander erfragt. Von knapp 6.400 Befragten gaben rund ein Viertel der Männer und Frauen sowie fast die Hälfte der jugendlichen Gefangenen an, solche körperliche Gewalt erfahren zu haben. 4,5% der Männer, 3,6% der Frauen und 7,1% der Jugendlichen berichteten, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Fast alle Teilnehmer klagten nach einem physischen oder sexuellen Übergriff über psychische Beeinträchtigungen. Die Autoren nennen als Reaktion auf die erfahrene Gewalt vor allem psychische Begleiterscheinungen wie Gefühle der Erniedrigung, Wut und Zorn sowie Hilflosigkeit. Sehr viele Betroffene klagten zudem über Schlafstörungen, depressive Symptome und Angstgefühle. Hilflosigkeit, Depression und starke Angstgefühle wirkten sich nachweislich dauerhaft negativ auf die psychische Gesundheit aus (Bieneck & Pfeiffer, 2012, S. 32).

Während bei den inhaftierten Männern insgesamt eine Tendenz bestand, sich mit anderen Personen über die erlebten Übergriffe auszutauschen, war dies bei den befragten Jugendlichen nicht der Fall; sie verzichten überwiegend auf eine Anzeige (ebd., S. 33). Das gilt „insbesondere [für] Jugendliche, die physische und sexuelle Gewalt erlebt haben. Als Gründe für diesen Verzicht wurden vor allem das Befolgen subkultureller Regeln bzw. die Angst, als Verräter zu gelten, benannt. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Befragten war zudem der Meinung, dass man ihnen sowieso nicht glauben wird. Scham spielt als Begründung für die Nicht-Anzeige insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Insbesondere die Gruppe der physisch und sexuell viktimisierten Betroffenen benennt diesen Grund jedoch häufiger. Hier könnte ein stärker auf Vertrauen basierender Umgang mit den Inhaftierten dazu beitragen, Subkulturen aufzubrechen und das Anzeigeverhalten so zu verändern, dass sich die Betroffenen nach erlebten Übergriffen häufiger an das Vollzugspersonal wenden“ (ebd.). „Rückblick, JVA Siegburg, Nordrhein-Westfalen, 11. November 2006. Es ist ihr erstes gemeinsames Wochenende im Gefängnis, eingepfercht auf 15 Quadratmetern der Zelle 104 der Justizvollzugsanstalt Siegburg“ (Spiegel Online, 2008). In diesem Szenario entwickeln drei jugendliche Häftlinge den perfiden Plan, ihren vierten Zellengenossen zu quälen und zu foltern. „Zwölf Stunden lang verprügeln und misshandeln sie den introvertierten, unsicheren 20-Jährigen. Mehrmals vergewaltigen sie ihn mit dem Stiel eines Handfegers, zwingen ihn, Urin zu trinken, erniedrigen ihn auf vielfache Weise. Bis sein Lebensmut endgültig erlischt, er seinen Peinigern gehorcht und sich selbst aufhängt« (Jüttner, 2008). Ein ähnlicher Fall ereignete sich in der JVA Celle/Salinenmoor zwei Jahre später (Spiegel Online, 2008).

Die Autoren der o.g. Studie kommen zu dem Schluss, dass es empfehlenswert wäre, das Vollzugspersonal so zu schulen, dass es sensibler auf die psychischen Bedürfnisse der von Gewalthandlungen Betroffenen eingehen kann. Darüber hinaus müssten auch Gefangene geschult und sensibilisiert werden (vgl. Siemer, 1998), und Mehrfachbelegungen der Hafträume reduziert und die interne Alarmtechnik verbessert werden. Aber das heißt insgesamt, dass Sexualität auf vielfache Weise als Thema von Haftalltag, psychischer Gesundheit und Resozialisierung anerkannt werden muss. Die Verleugnung sexueller Realität im Justizvollzug durch Bedienstete und Gefangene, das Schweigen über Sex, unterstützt die Untätigkeit in diesem Bereich. Es muss auch ein System der anonymen und vertraulichen Hinwendung geschaffen werden, denn Gefangene wissen oft nicht, wohin sie sich wenden sollen, wenn sie sexuell missbraucht, zu sexuellen Dienstleistungen gezwungen oder vergewaltigt worden sind. Es gibt noch nicht einmal Strukturen in Gefängnissen, um betroffenen Gefangenen nach einer sexuellen Exposition die Möglichkeit zu geben, sich vor sexuell übertragbaren Krankheiten zu schützen (bspw. Postexpositionsprophylaxe für HIV). Angesichts der hohen Prävalenz verschiedener Formen von Hepatitis und von HIV in Haft ist die Abwesenheit entsprechender Versorgungsstrukturen bedenklich. (vgl. Wiessner & Štukelj, 2006). […]

Fazit

Sexualität in geschlossenen Einrichtungen, und hier v.a. im Gefängnis, ist weitgehend ein Tabu – und doch wird es in der klandestinen Welt der Häftlinge berührt – schuld- und schamvoll, voller Entdeckungsängste. Es geht nicht nur um die Entdeckung des gleichgeschlechtlichen Geschlechtsaktes – obwohl in vielen afrikanischen Staaten auch der in Gefängnissen wie in Freiheit hart bestraft wird –, sondern um den vermeintlichen Verlust sexueller Identität: „Gelte ich als schwul?“ „Erfahren die da draußen davon?“ „Wie komme ich selbst damit klar, dass ich sexuell etwas anderes lebe, als ich leben will und gewohnt war zu leben?“ Dies sind Ängste auf drei unterschiedlichen Ebenen, die in Gefängnissen keinen Adressaten finden – die natürlich nicht bei Besuchen oder gegenüber Bediensteten und Mitgefangenen geäußert werden dürfen. Es sind die externen Hilfeanbieter, die Bedienstete wie Gefangene motivieren müssen, über Sexualität reden zu lernen. Den weiblichen Gefangenen scheint dies besser zu gelingen als den „harten Jungs“, die in Haft die traditionellen Männer geben (müssen). Die Thematisierung und der Abbau von Homophobie wird in Haft noch lange brauchen: Erosionserscheinungen draußen („Ich bin schwul und das ist gut so!“) scheint es unter Haftbedingungen nicht zu geben. Der Grund liegt darin, dass Menschen, denen die Freiheit entzogen worden ist, das, was ihnen noch geblieben ist – ihre (sexuelle) Identität – als Überlebensmittel benötigen; es gibt keine Verhaltensalternativen – und es gibt kein Entkommen.

Heino Stöver | Mehr zum Thema bei Nomos eLibrary

 

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