Vor einem baden-württembergischen Gericht in Ulm wurde im September 2018 eine Tat verhandelt, die sich 2017 im dortigen Gefängnis zugetragen hat. Ein 19-jähriger Häftling misshandelte und schlug einen 61 Jahre alten Mithäftling über längere Zeit in der gemeinsamen Zelle. Die Misshandlungen gipfelten darin, dass der junge Mann den älteren zwang, sich zu entkleiden. Er steckte ihm den Griff einer Gabel in den After und trat sie ihm in den Leib. Der 61-Jährige erlitt danach eine Bauchfellentzündung, die verschleppt wurde.
Er hat die Zeit der Folter aus Angst vor dem Angreifer zunächst ertragen. Er hat seine Schmerzen auch dem Arzt gegenüber verheimlicht, sodass die lebensbedrohlichen inneren Verletzungen erst spät entdeckt wurden. In der JVA ist man auf die Misshandlungen erst aufmerksam geworden, als Wunden im Gesicht des Opfers nicht mehr zu übersehen waren. Sein Leben konnte nur gerettet werden, indem ihm ein künstlicher Darmausgang gelegt wurde. Man hatte den jungen Gewalttäter bewusst zu dem älteren Mann gelegt, weil man der irrigen Meinung war, der väterliche Einfluss könne eine befriedende Wirkung entfalten. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Inhaftierte insbesondere sexuelle Gewalt nicht zur Anzeige bringen. Die Gründe haben vor allem damit zu tun, dass kein Vertrauen in das System Justizvollzug besteht. Folgende Gründe spielen eine Rolle:
- Gefangene haben die Befürchtung oder sie haben die Erfahrung gemacht, dass es nichts nützt, sich zu offenbaren, weil „sowieso nichts passiert“.
- Gefangene trauen dem Justizvollzug nicht zu, dass er sie schützen will und/oder schützen kann.
- Gefangene haben Angst vor Vergeltung durch den Täter oder andere Inhaftierte. Als „31er“ müssen sie befürchten ausgegrenzt und/oder weiter misshandelt zu werden. Nach § 31 BtmG ist eine Strafmilderung oder ein Straferlass möglich, wenn ein Täter durch seine Aussage zur weiteren Aufklärung einer Tat beiträgt. Wer mit der Justiz kollaboriert, wird „31er“ oder „Zinker“.
Gefangene schweigen aus Scham
Wenn Bedienstete der Justiz durch Wegschauen oder aktiv in Taten sexueller Gewalt involviert sind, tut der Inhaftierte oft gut daran, keine Anzeige zu erstatten, sondern seine Aussage zu seinem Schutz vor weiteren Übergriffen bei einem Anwalt zu hinterlegen. Zwei weitere Beispiele verdeutlichen, wie im Justizvollzug zu oft mit sexualisierter Gewalt bzw. sexueller Belästigung umgegangen wird.
- Ein Mitarbeiter der Justiz sucht das Gespräch mit dem Seelsorger, weil er in einer Konferenz mit der Anstaltsleitung die Erfahrung gemacht hat, dass sexuelle Übergriffe nur widerwillig zur Anzeige gebracht werden. Ein Gefangener hatte sich der Justiz gegenüber offenbart, dass er von einem Mitgefangenen zu oralem Sex gezwungen wurde. In der genannten Konferenz wurde es kontrovers diskutiert, ob der Sachverhalt zur Anzeige gebracht werden solle oder nicht. Der Mitarbeiter war darüber sehr empört, weil es für ihn eine Selbstverständlichkeit darstellt, dass eine Straftat geahndet wird.
- Ein Gefangener befand sich zur Zeit seiner Inhaftierung in einem Prozess der Geschlechtsangleichung (Transition). Er hatte seine Personenstandsdaten noch nicht von männlich auf weiblich geändert, weshalb er in einem Männergefängnis untergebracht war. Bekleidet hatte er äußerlich alle Merkmale einer Frau. Er offenbarte sich dem Seelsorger gegenüber, dass Vollzugsbeamte bei jeder Essensausgabe von ihm verlangten, dass er weiblich gekleidet den ganzen Flur entlanglaufen sollte, um sein Essen entgegenzunehmen. Da bei der Essensausgabe die Klappen in den Zellentüren geöffnet waren, konnten die Gefangenen auf dem Flur an dem „Schauspiel“ lautstark teilhaben.
Die Beispiele zeigen, dass der Gefangene nicht unbedingt das Vertrauen in den Justizvollzug haben kann, dass seine sexuelle Integrität und Selbstbestimmung gewährleistet ist. Da es Vollzugsbeamte gibt, die bei den oben genannten Beispielen ein moralisches Unbehagen empfinden, bietet ein Ethikkomitee die Möglichkeit, solche Situationen zu reflektieren. Das Ziel ist, dass die Akteure im Justizvollzug für die Vulnerabilität des Inhaftierten sensibel werden, denn der Gefangene ist beim Schutz seiner sexuellen Integrität und Selbstbestimmung existentiell auf Vertrauensbeziehungen angewiesen.
Folgerungen
Sexualität berührt den personalen Wesenskern des Inhaftierten. Deshalb muss sie im Ethikkomitee ihren Platz haben. Das Ethikkomitee kann so einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Sexualität als vertrauenssensibles Thema der Vollzugsgestaltung aufzugreifen. Wie man an der Loccumer Tagung erkennen kann, hat das Thema in den 1970 er Jahren eine weit größere Aufmerksamkeit erfahren, als das heute der Fall ist. Der damalige Staatssekretär im niedersächsischen Justizministerium Erich Bartsch sagte auf der Tagung im Jahre 1974: „Die im Strafvollzug erzwungene sexuelle Isolation ist nicht nur ein Übel für die Betroffenen selbst. Sie hat vielmehr auch negative Bedeutung für die Gesellschaft, in die die Gefangenen einmal zurückkehren werden.“ Gesamte Arbeit…
Michael Drescher | JVA Karlsruhe