Mehr als 20 Jahre Berufsjahre hat Jönk Schnitzius hinter Gittern verbracht: erst als Gefängnisseelsorger in der JVA Wuppertal-Vohwinkel, dann im neuen Jugendgefängnis Wuppertal-Ronsdorf. Jetzt geht er in den Ruhestand. Über 20 Jahre Knast – das gilt als „lebenslänglich“. Im Interview mit der Westdeutschen Zeitung erzählt Schliezius Hintergründe.
Sie haben es wirklich lange als Seelsorger hinter Gittern ausgehalten. Warum?
Für mich ist es ein großes Geschenk, dass ich so lange Gefängnisseelsorger in Wuppertal sein konnte, denn ich war da richtig. Aber denken Sie nun nicht, dass ich dort immer schon hinwollte. Im Gegenteil. Es gab viele Bereiche, in denen ich mir als junger Theologe vorstellen konnte zu arbeiten. Der Knast gehörte nicht dazu. Als ich das erste Mal als Pfarrer der Gemeinde Wichlinghausen-Nächstebreck mit unserem Presbyterium zu einem Weihnachtsgottesdienst in der JVA Vohwinkel eingeladen war, fand ich alle meine Vorurteile bestätigt und den ganzen Ort einfach nur bedrückend. Doch dann habe ich im Gottesdienst plötzlich gespürt, dass ich genau da hingehöre, wo ich nie hinwollte. Und das hat sich nicht verändert.

Foto: Jörg Schniezius in der Uustizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf. Damaschke.
Und dann haben Sie Gefallen an diesem Ort gefunden?
Den Ort finde ich nach wie vor schwer. Dieser Arbeitsplatz ist kein Ort zum Wohlfühlen. Es ist ein Ort, an dem es darum geht, sich und die Haft auszuhalten. Beides kann schier unerträglich werden. Und dabei konnte ich die Inhaftierten unterstützen. Von der Gesellschaft, Familie und Freunden getrennt zu sein, eingeschlossen in einer kleinen Zelle mit einem Alltag voller strikter Regeln, eingebunden in strenge soziale Hierarchien – das ist anstrengend und schwer auszuhalten. Zumal die Inhaftierten oft als Täter angesprochen werden und nicht als Mensch, der zum Täter geworden ist.
Wie sah Ihr Alltag als Gefängnisseelsorger aus?
Ich habe viele Einzelgespräche mit den Inhaftierten geführt, Gottesdienste gehalten, diese mit Gruppen von Gefangenen vorbereitet und Projekte mit ihnen gemacht. Zunächst war ich in der JVA Vohwinkel im Erwachsenenvollzug. 2011 bin ich in die im Jahr 2010 neu errichtete JVA Wuppertal-Ronsdorf in den Jugendvollzug gewechselt, um dort mit einem katholischen Kollegen die Gefängnisseelsorge aufzubauen.
Ist es ein Unterschied, ob Sie mit erwachsenen Männern oder Jugendlichen im Knast zu tun haben?
Auf jeden Fall. Im Jugendknast können die Inhaftierten ihren Schulabschluss nachholen, eine Ausbildung machen und in den Werkstätten arbeiten. Sie bekommen therapeutische, sportliche und kulturelle Angebote. Wenn sie uns Seelsorgende um ein Gespräch bitten – wofür ein schriftlicher Antrag gestellt wird – verabreden wir uns, wann wir sie dafür in ihrer Zelle abholen können. Im Erwachsenenvollzug ist das selten nötig, denn es gibt längst nicht so viel Abwechslung. Viele Inhaftiere sitzen sehr oft in ihrer Zelle. Das wirkt sich natürlich aus. Ich habe in der JVA Vohwinkel mehr Resignation und Depression erlebt. Dafür gibt es im Jugendstrafvollzug mehr aggressive Auseinandersetzungen.
Mit welchen Themen sind die Inhaftierten zu Ihnen gekommen?
Das reicht von der konkreten Frage, wie ich als Gefangener mit der Haft klarkomme, konkret: mit den anderen Gefangenen und den Bediensteten, der Situation der Angehörigen draußen, bis zur Frage, wie es danach weitergehen kann. Und natürlich ist Sucht fast immer ein Thema und die Erfahrung früher Gewalt und Vernachlässigung. Oft ist mir der Wunsch zu beten begegnet. Viele möchten ein anderes Leben führen, wenn sie aus dem Gefängnis kommen. Wie das aussehen kann, war häufig ein Gesprächsthema.
Info
Jönk Schnitzius ist 1961 geboren und in Essen aufgewachsen. Er hat in Wuppertal und Marburg evangelische Theologie studiert. Sein Vikariat hat er in der Gemeinde Schellenbeck-Einern gemacht. Bevor er als Gefängnisseelsorger in die JVA Wuppertal-Vohwinkel und dann ab 2006 in die JVA Wuppertal-Ronsdorf in den Jugendvollzug kam, war er Pfarrer zur Anstellung in Wichlinghausen-Nächstebreck. Jönk Schnitzius ist verheiratet und hat einen Sohn.
Was waren für Sie Highlights in Ihrer Tätigkeit als Gefängnisseelsorger?
Dazu gehört für mich auf jeden Fall das Theaterprojekt, das wir 2013 mit dem Schauspielhaus gemacht haben. Inhaftierte haben mit den Theaterprofis Macbeth von Shakespeare einstudiert und dann vor dem Theaterpublikum in der JVA aufgeführt. Das war ein großer Erfolg und wirklich bewegend. Ich zähle auch die Gottesdienste und so manches Seelsorgegespräch dazu. Über zehn Jahre hatte ich einen Lehrauftrag an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und habe meine Studierenden mit den Inhaftierten zusammengebracht. Dieser Austausch war für beide Seiten eine besondere Erfahrung. Auch das war für mich ein Highlight.
Wie haben Sie selbst sich durch Ihre Arbeit hinter Gittern verändert?
Ich kann mein Leben in Freiheit und die vielen Möglichkeiten, die ich habe, besser wertschätzen – aber sehe auch die Verantwortung, die damit verbunden ist. Und ich habe gelernt, die Ambivalenz auszuhalten, dass wir als Menschen gut und böse, gerecht und schuldig zugleich sind. Das mag sich einfach anhören, aber gerade im Umfeld des Gefängnisses schleicht sich leicht das Gift des Schwarz-Weiß-Denkens ein, hier die Täter, dort die Opfer. Mir ist es immer wichtig, in jedem Inhaftierten den Menschen zu sehen, der – genau wie ich – Gottes geliebter Mensch ist. Für Gott kein hoffnungsloser Fall. Wie wir.
Das Gespräch führte Sabine Damaschke | Westdeutsche Zeitung