Wenn Gefängnisseelsorger Andreas Beerli kommt, stehen alle Türen offen: die des Gefängnisses und die der Seelen. Sein Besuch wirkt für viele Gefangene befreiend. In einem Gespräch mit Journalistin Claudia Schneider gibt Andreas Beerli Einblick in die gegen aussen verschlossene Welt des Gefängnisses in der Schweiz. Als Gefängnisseelsorger hat er keinen Schlüssel, höchstens den seelsorgerlichen zum Gegenüber.
Sie leiten die Gefängnisseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Was hat sie motiviert, diese Funktion zu übernehmen?
Seit 1999 besuche ich mehrmals monatlich das Bezirksgefängnis in Horgen. In den vergangenen 15 Jahren habe ich erlebt, dass unsere Seelsorgearbeit hinter den Gefängnismauern nicht leichter wurde – im Gegenteil, hier sind wir immer mehr gefordert. Unsere Arbeit kann für die Menschen, mit denen wir zu tun haben, nur dann zum Segen werden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wir uns voll und ganz auf unser seelsorgerisches Wirken konzentrieren können. Die Optimierung der Rahmenbedingungen ist und bleibt mein zentrales Anliegen und stellt auch die Grundlage meiner Motivation dar.
Spielen religiöse Fragen im Leben drinnen eine grössere Rolle als draussen?
Nein, das glaube ich nicht. Aber es ist schon ein Unterschied, ob ich meine Gottesbeziehung in einer Umgebung lebe, die mir vertraut ist, wo das Meiste stimmt, oder ob ich mich in einer Extremsituation befinde. Dort, wo ich durchgeschüttelt werde, wo vieles in Frage gestellt ist und wird, dort tauchen die Sinn- und Glaubensfragen in eine andere Intensität auf. Die Grundthemen von Vertrauen, Loslassen, Versöhnung, Hoffnung und Gemeinschaft bleiben aber die Gleichen. Auch in unserem täglichen Wirken in den Pfarreien begegnen wir vielen Menschen in ganz besonderen Lebenssituationen. Hier ist – genauso wie im Gefängnis – ein offenes Ohr und Empathie gefragt.
Weshalb ist die Kirche „hinter Gittern“ präsent bzw. braucht es diese Präsenz? Was ist das Ziel und die Aufgaben der Gefängnisseelsorge?
Natürlich könnte man auf die bekannte Bibelstelle in Matthäus 25, 36 verweisen „Ich war im Gefängnis und ihr habt mich besucht“ und sagen, genau das ist unser Auftrag. Aber unser Engagement findet seinen Grund in unserem Glauben an einen Gott, der bei, unter und mit uns ist. Papst Franziskus hat es in einem Interview sehr schön formuliert: „Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen. Auch wenn das Leben eines Menschen eine Katastrophe war, wenn es von Lastern zerstört ist, von Drogen oder anderen Dingen: Gott ist in seinem Leben….” Und weil Gott im Leben jedes Menschen ist, sind wir aufgerufen, diesen Gott in allen Lebenssituationen in Erinnerung zu rufen und seine Gegenwart zu bezeugen.
Die Katholische Kirche im Kanton Zürich hat die Leitungsstelle von 5 auf 20 % erhöht. Was war der Grund?
Die Ansprüche sind gestiegen. Natürlich können wir davon die Augen verschliessen, aber dies kann nicht im Sinne einer diakonischen und solidarischen Kirche sein, die die Zeichen der Zeit erkennt und danach handelt. Gefängnisseelsorge wird auch in Zukunft gefragt sein, wenn wir professionelle und engagierte Seelsorge leisten. Mit der Erhöhung auf 20% können die vielfältigen Aufgaben eruiert und nach praktikablen Lösungen gesucht werden.
Welche Aufgaben haben Sie? Gibt es eine neue Ausrichtung?
Mein Vorgänger, Pfarrer Rolf Reichle, hat sich 16 Jahre lang mit grossem Engagement für die Gefängnisseelsorge eingesetzt. Ihm sei hier nochmals ganz herzlich gedankt. Genau wie die Spitalseelsorge vor einigen Jahren eine neue Struktur erhielt, so stehen auch im Bereich der Gefängnisseelsorge diverse Veränderungen an. Es geht in erste Linie um die Führung, Begleitung und Neurekrutierung von Gefängnisseelsorgenden. Es stellen sich Fragen wie: Welche Ausbildungen, welche fachlichen und persönlichen Qualifikationen braucht es für diesen Dienst? Wie kann diese anspruchsvolle Seelsorgearbeit unterstützt und begleitet werden? Ein ganz besonderes Augenmerk möchten wir auf die ökumenische Zusammenarbeit legen. Hier sitzen wir im gleichen Boot, haben die gleichen Fragen und Herausforderungen. Ein vertieftes ökumenisches Miteinander wünsche ich mir auf der Leitungsebene, wie auch vor Ort in den Gefängnissen. Die bereits gemachten Erfahrungen stimmen mich zuversichtlich.
Zu Ihren Aufgaben gehört auch die Öffentlichkeitsarbeit bzw. die Sensibilisierung der Gesellschaft für die Situation und Anliegen der Gefangenen. Aus welchen Gründen erachten Sie das als wichtig?
In den letzten Jahren wurde ich von diversen Gruppierungen eingeladen um über die Arbeit als Gefängnisseelsorger zu sprechen. Die häufigste Frage dabei war: Warum wurden diese Menschen kriminell? Da gibt es wohl so viele Antworten wie Einzelschicksale, aber oft ist es eine Reihe von schwierigen Umständen, von negativen Prägungen und eingeschränkten Voraussetzungen. Als Gefängnisseelsorgende richten unseren Blick nicht auf die begangene Tat, sondern auf den Menschen, unabhängig welcher Religion oder Konfession er angehört. In dieser besonderen Lebensphase sind wir Gesprächspartner, Vertrauensperson und ganz wichtig, wir sind Menschen, die im Glauben verwurzelt sind und das Leben aus diesem Glauben heraus deuten.
Auch wenn der Gefangene die Regeln, die wir uns als Gesellschaft gegeben haben, verletzt hat, so ist und bleibt er ein Teil dieser Gesellschaft. Er hat weiterhin Rechte und das Anrecht, seinen Glauben und seine Gottesbeziehung auch in der Zeit seines Gefängnisaufenthaltes zu pflegen, zu hinterfragen und zu vertiefen. Gerade die Auseinandersetzung mit Sinn- und Glaubensfragen kann grundlegende Veränderungen in Gang bringen. Gefängnisseelsorgende begleiten die Gefangenen in und durch diese Prozesse. Ihre Arbeit ist Teil eines Integrationsprozesses – zurück in die Gesellschaft, zurück in unsere christliche Gemeinschaft.
Die Gefängnisseelsorgenden der katholischen und reformierten Kirchen im Kanton Zürich sind in den Fluren der 15 Gefängnisse im Kanton unterwegs und bieten den rund 900 Straftätern und Straftäterinnen drinnen ihre Unterstützung an, wenn es um Fragen zum Leben, ihre Sorgen und Nöte geht oder auch einfach um die Gesellschaft eines Mitmenschen. Sie ermöglichen Gottesdienste und Weihnachtsfeiern fernab der Gesellschaft.
Andreas Beerli verfügt als Theologe über langjährige Erfahrung in der Seelsorge und als Gemeindeleiter. Als eidg. dipl. Drogist bringt er auch Wirtschaftserfahrung aus der Pharmabranche und als Geschäftsführer einer grossen Drogerie mit. Seit 2013 leitet er die kantonale Gefängnisseelsorge. Ein zusätzliches Masterstudium in Non-Profit-Management, sowie spezielle Ausbildungen in Coaching/Supervision, Organisationsberatung und Mediation ergänzen seinen vielfältigen Ausbildungsrucksack. Seit anfangs 2018 leitet er die kirchliche Stelle für Gemeindeberatung, Coaching und Supervision.
Interview mit Andreas Beerli 30:28 Minuten