Ein Rettungswagen fährt durch beide geöffneten Tore in die Justizvollzugsanstalt ein. Grund der Alarmierung ist, dass ein Häftling in der Sonderfreistunde massiv auf den Kopf eines Mitgefangenen einschlägt, der dort auf der Bank sitzt. Dieser wird nach der Erstversorgung ins Revier gebracht. Er ist ansprechbar, kann sich aber an nichts mehr erinnern. Der Verursacher kommt in den besonders gesicherten Haftraum (bgH). Im Fokus der Überwachungskameras ereignet sich dies in einem abgezäunten Bereich mit nur zwei Gefangenen. Ist dies Alltag im Jugendvollzug? Durch die schockierenden Vorfälle werden Bedienstete daran erinnert, wo sie arbeiten. Doch es gibt nicht nur solche Ereignisse.
Eine kräftiger Gefangener mit Statussymbol seiner Uhr am Arm ruft in der Anstaltskirche aufgeregt: “Ein Tier, ein Tier…” Verwundert drehe ich mich um. Auf seinen zusammengehaltenen Handflächen hütet er einen Schmetterling mit bunten Flügeln. “Ich mag diese Tiere, schauen sie mal, wie schön die sind…” Angesichts der gerade massiv erlebten Gewalt, bin ich erstaunt und verwundert. “Der Schmetterling muss die Freiheit haben. Wo ist das Fenster, dass ich ihn freilassen kann?” fragt der junge Mann mit langem Bart bestimmend. Behutsam entlässt er den Schmetterling am Fenster in die Freiheit. “Ich will auch frei sein, wissen Sie…”, fügt er hinzu.
Kaum ausgesprochen kommt ein anderer Inhaftierter und macht darauf aufmerksam, dass an den Kirchenfenstern noch mehr Schmetterlinge sind. Einer hat sich in einem Spinnennetz verfangen. Jeden einzelnen Schmetterling nehmen nun beide Gefangene behutsam in ihre Handflächen und tragen sie prozessionsartig zum Fenster. Geschickt klettert der Schmetterlingsfinder erneut an den Kirchenfenstern hoch. “Schauen Sie, dass ist jetzt der Zwölfte”, sagt der Gefangene. Und schon bringt er diesen ans offene Bürofenster. Sehnsüchtig schaut dieser dem wegfliegenden Schmetterling nach. Ein schönes Bild, denke ich. Ein Augenblick, der ganz nah ist und doch wieder ganz weit wegrückt. Mich stimmt diese Alltagserfahrung an diesem Ort des Knastes hoffnungsvoll. Es ist wie Balsam auf die Seele. Die umherfliegenden Schmetterlinge an den Kirchenfenstern aus dem 19. Jahrhundert habe ich erst gar nicht bemerkt. Mein Tunnelblick war aufgrund der vorhergegangenen Gewalttat getrübt.
Zur Unterstützung begleitet eine Besatzung mit dem Gefangentransportwagen (GTW) das Rettungsfahrzeug zum Klinikum. Nachmittags erfolgt die Benachrichtigung, dass keine stationäre Unterbringung des Gefangenen medizinisch notwendig ist. So hoffe ich, dass es dem Geschädigten bald besser geht und die Vorkommnisse aufgearbeitet werden. Im Gegensatz zur Unfreiheit jemanden übel zuzurichten und zu schaden, sprechen hoffnungsvolle Geschichten von neu erfahrener Freiheit. In vielen Traditionen ist der Schmetterling ein Symbol für die Seele. Eine wichtige Botschaft, die vom Geist des Schmetterlings getragen wird, betrifft die Fähigkeit, wichtige Veränderungen trotz harter Realitäten zu durchlaufen. Klingt das wie im Märchen? Immerhin fliegen diese zarten Seelen mit leichten bunten Flügeln stellvertretend in die ersehnte Freiheit.
Michael King | JVA Herford