Die Entdeckung des Themas der „politischen“ Gefangenen in den beiden Bochumer Justizgefängnissen zur Zeit der NS-Diktatur ist für Alfons Zimmer mit starker persönlicher Erschütterung verbunden. Die „Krümmede“ war sein Arbeitsplatz. Als er im Sommer 2013 erste Hinweise auf „nicht-kriminelle“ Inhaftierte im damaligen Strafgefängnis erhielt, war er bereits zwanzig Jahre in der JVA Bochum tätig. Nach seiner Pensionierung ist der ehemalige Gefängnisseelsorger weiterhin mit der Geschichtsaufarbeitung beschäftigt.
Zum Teil sind Flügel- und Zellenbezeichnungen der JVA Bochum noch die gleichen wie damals. Durch diesen örtlichen Bezug berührten mich Schicksale von Verurteilten und an den Haftfolgen in Bochum oder gar durch Hinrichtung in Anschlusshaft ums Leben Gekommene sehr und auch schriftliche Zeugnisse überlebender Inhaftierter etwa von Einsätzen in Bombenentschärfungskommandos, von brennenden Gefängnisdächern nach Luftangriffen, auch von Schusswaffengebrauch gegen sie. Die Behördenvorstellung der JVA Bochum ist bemüht, den Unterschied zu betonen zwischen dem System der traditionellen Strafanstalten und den Polizei- und Strafinstitutionen des NS-Regimes. Sie besagt kurz, dass „während der Zeit von 1933 bis 1945 […] nach bisherigen Ermittlungen keine Gefangenen der GeStaPo oder anderer nationalsozialistischer Einrichtungen in dem Centralgefängnis Bochum untergebracht“ waren.

Die alte Schleuse und der ehemalige Eingang der JVA Bochum. Foto: Imago
NS-Ideologie
Bei aller notwendigen Unterscheidung ist dabei Verschiedenes zu wenig berücksichtigt, zunächst die von der NS-Ideologie geprägte Gesetzgebung. Mit einem Delikt wie „Vorbereitung zum Hochverrat“ etwa wurde jegliche oppositionelle Betätigung außerhalb der NSDAP kriminalisiert und unter hohe Strafen gestellt. Die Heimtückeverordnung stellte jede Kritik an Staat, Partei und politischer Führung unter Strafe. Die Missbilligung des Kriegsgeschehens zählte als Wehrkraftzersetzung. Durch Denunzierung von Mitbürgern nach kritischen Bemerkungen etwa bei Gaststättenunterhaltungen gerieten viele in Haft. Häufig waren es Gestapomitarbeiter, die anzeigten und verhafteten. In der Nachkriegsgerichtsbarkeit nahmen darum Prozesse gegen die Denunzianten großen Raum ein. Unberücksichtigt ist bei der Behördenvorstellung ebenfalls, dass es Geheimabsprachen zwischen dem Reichsjustizministerium, der Gestapo, SS und Polizei gab. Schließlich wurden viele Häftlinge nach Verbüßung ihrer regulären Strafe in die Schutzhaft der Gestapo überstellt und danach nicht selten in weitere Strafeinrichtungen, auch zur Vernichtung durch Arbeit in Konzentrationslager verlegt.
Nicht erkannter Schicksalsort
Warum ist hier am Ort so wenig über das Thema der politischen Gefangenen bekannt? Warum finden sich dazu kaum Hinweise und keine ausführlichen Veröffentlichungen? Auch viele Nachfragen bei Fachleuten für die Bochumer Stadtgeschichte brachten zunächst nur das nüchterne Fazit: „Das Bochumer Strafgefängnis ist ein bisher nicht erkannter Schicksalsort“. Sehr persönlich wurde die damalige Geschichte für mich auch durch die Begegnung mit heute noch lebenden Verwandten und Bekannten der damals Inhaftierten. Darunter waren die Schwester und die Kinder eines 17-jährigen Niederländers, der hier wegen Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsordnung einsaß. Sie besuchten die JVA und auch mich privat am 70. Jahrestag des Kriegsendes und dem 75. Jahrestag des Überfalls Hitlers auf ihr Heimatland. Es war der Besuch bei der Nichte eines inhaftierten Priesters und die Begegnung mit Gemeindemitgliedern eines anderen Pfarrers, darunter eine alte Dame, die ihn noch als Kind hat predigen hören zum Ausschluss von der Kommunion für alle, die NSDAP wählten. Auch mit den Enkeln eines denunzierten und in Haft verstorbenen Bochumers konnte ich sprechen, sowie mit Verwandten und in der Erinnerungsarbeit aktiven Personen aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden.
Darunter war ein Bewohner aus dem belgischen Ort Lichtervelde, damals 10 Jahre alt. Der Bürgermeister dieses Ortes und zwölf Bewohner gerieten nach Aktivitäten in der Résistance in Bochumer Haft und wurden alle in Wolfenbüttel (Gedenkstätte in der jetzigen JVA) hingerichtet. Darunter war auch die Tochter eines Niederländers, der von 1941 bis 1945 in der „Krümmede“ einsaß und unter dem Titel „Op vrijheid gesteld“ ein Buch geschrieben hat. Sie habe dieses erst in späten Jahren lesen können. Ich war bei einer Veranstaltung im Lager Esterwegen, wohin auch viele Bochumer weiter verlegt wurden. Dort habe ich über 70 Jahre nach dem Weltkriegsende Kinder und Enkel von in Haft umgekommenen Männern aus den Beneluxstaaten weinen sehen. Mit einem Sohn und einer Tochter von Vätern, die in den frühen Dreizigern in der Jugendabteilung der „Krümmede“ als Jungkommunisten einsaßen und nach dem Krieg in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes tätig wurden, habe ich sprechen können.
Gesichter zeigen
Aber auch heutige Justizbedienstete konnten Erinnerungen ihrer Väter und Großväter beisteuern, die im damaligen Strafgefängnis tätig waren. Im Wesentlichen durch Internetrecherchen konnten auf der Suche nach politisch Verfolgten Hunderte von Namen gefunden werden. Darüber hinaus jedoch wurden für fast einhundert Personen auch Bildportraits erstellt. Über die Hälfte dieser Portraitierten überlebte die Inhaftierung nicht. Sie hatten nun ein Gesicht. Ihre Lebensgeschichte wurde lebendig für mich. Ich gewann eine Beziehung zu ihnen, dachte an ihre geraubte Lebenszeit und an die schmerzhaften Folgen für ihre Familien. Sehr viele kamen in jungem Alter ums Leben. Der jüngste mir bekannte Bochumer Häftling war 15 Jahre alt, ein Belgier. Er starb mit 17 Jahren im Gefängnis Lingen an Typhus. Zuletzt ist auch der Gedanke nicht unwichtig, dass in einer Einrichtung des heutigen Strafvollzuges von den Inhaftierten die Beschäftigung mit ihrer Tat und den Opfern ihrer Taten verlangt wird. Ebenso dürfen dann im Gegenzug der Strafvollzug und auch eine Stadt nicht den dunklen Seiten der eigenen Geschichte ausweichen. Diese Summe an persönlichen Bezügen zum Thema mag ungewöhnlich sein für eine Befassung mit der Geschichte einer Hafteinrichtung in der NS-Zeit. Aber sie motivierte mich sehr. Sie braucht und darf daher bei der Darstellung der Dinge nicht verschwiegen werden. Mehr lesen…
Alfons Zimmer