Wer hier arbeiten will, kommt mit Diplomatie und Gerechtigkeitssinn nicht weit. Ein dickes Fell braucht man wohl eher, dazu jede Menge Gottvertrauen und eine große Portion Menschenliebe. Das Männergefängnis San Juan de Lurigancho in Lima ist einer der unbarmherzigsten und härtesten Arbeitsplätze in Lateinamerika. Hier leben zurzeit rund 10.800 Gefangene – Drogendealer, Räuber, Vergewaltiger, Totschläger, Mörder – Verurteilte und nicht Verurteilte, Schuldige und Unschuldige – aufgeteilt auf 21 Baracken, „regiert“ von Bossen, die für Ruhe – oder auch Unruhe sorgen, abgeschirmt von der Außenwelt und unter ständiger Bewachung von rund 400 Polizisten, die mal mehr, mal weniger gelingt. Mittendrin: „Padre“ Norbert Nikolai aus dem Bistum Essen.
„Padresito“ rufen sie ihn hier. „Padre Norberto“ ist eine Respektsperson, ein anerkanntes Schwergewicht, an dem man nicht so leicht vorbeikommt. Als Seelsorger kam er vor sechs Jahren hierher. „Lurigancho“ ist ein eigener Kosmos, ein eigenes Stadtviertel, die Gefangenen bewegen sich innerhalb des Geländes frei, organisieren ihr Leben, soweit es sich innerhalb der Gefängnismauern organisieren lässt. Es gibt Händler, Friseure und Restaurants, alles wird von den Gefangenen betrieben. „Mit Geld ist hier fast alles zu haben“, sagt Nikolai. „Und die Kriminalität ist hier alltäglich.“ Drogenkriminalität steht dabei ganz oben auf der Liste.
In einem seiner regelmäßigen Rundbriefe berichtet er von einer Frau, die außerhalb des Knastes mit Drogen aufgegriffen wurde. Sie hatte sie beim Besuch im Knast gekauft, weil sie dort billiger zu bekommen waren als draußen. Überhaupt sind Drogen das tägliche Brot – und immer Thema bei der seelsorgerischen Arbeit. In der Gefängnisseelsorge, der „Capellanía“, arbeiten neben Padre Nikolai rund 40 Mitarbeiter, Schwestern und Missionare aus aller Welt. Mit Rehabilitations- und Antidrogen-Programmen versucht das Team, den oft jugendlichen Straftätern einen Zufluchtsort zu bieten. „Wir sind da“, ist die schlichte Botschaft – für Gespräche, für Therapien, für Glaubensbegleitung, für Hilfe beim Entzug. Hier wird nicht gefragt, was jemand getan hat. Hier geht es darum, herauszufinden, welches Potenzial in den Therapiewilligen steckt – und sie in ihren Fähigkeiten zu bestärken.
Die Erfolgsquoten sind dennoch gering. Rund zehn Prozent der in die „Capellanía“ aufgenommenen Gefangenen schafft länger oder langfristig die Abkehr vom alten Leben. So wie der 28-jährige Leo. „Er hat 16 Monate an unserem Therapieprogramm teilgenommen und dann in der Gefängnispastoral mitgeholfen“, berichtet Padre Nikolai. „In dieser Zeit hat er viel über sich gelernt, sich von den Drogen verabschiedet und wieder Verantwortung für sein Leben übernommen. Er hat den Schulabschluss gemacht, arbeitet als Kellner und lebt mit seiner Tochter und der Oma zusammen. Er freut sich, dass sein Leben nach Knast und Drogen wieder stabil ist.“
Dennoch ist an Aufgabe nicht zu denken. Für Padre Nikolai überwiegen die positiven Begegnungen. Schon als Priesterseminarist kam er 1991 erstmals nach Peru, arbeitete in einem kleinen Dorf in den Anden. „Die Einfachtheit, die Gastfreundschaft und dieser unmittelbare Glaube, das war für mich sehr einprägsam“, erinnert er sich. Dabei geht es um Missionierung am allerwenigsten. 70 Prozent der Gefangenen bezeichnen sich als katholisch. „Woher nehmen die ihren Glauben?“, hat sich Nikolai schon manches Mal gefragt und bekennt: „Die vielen Gespräche, präsent zu sein und zuhören zu dürfen, hat auch mich in meinem Glauben reicher gemacht.“ Er selbst schöpft die Kraft für seine Arbeit auch aus Begegnungen außerhalb der Gefängnismauern. „Ich habe viele Freunde hier in Lima“, erzählt er. Er spielt Gitarre und Keyboard, kocht und isst gerne. Ein Leben als „normaler“ Geistlicher in Deutschland ist für ihn nur noch schwer vorstellbar. Er will Weltengänger und Brückenbauer sein. Einmal im Jahr fliegt er heim, besucht seine Mutter in Bochum und hält Vorträge. Doch schnell treibt ihn die Sehnsucht zurück nach Lima. Dass er nach Ablauf der Amtszeit 2019 weiter dort wirken kann, ist sein großer Wunsch. „Es ist ein großes Geschenk, hier arbeiten zu können. Ich hoffe und gehe davon aus, dass ich in Peru bleiben werde.“
Text: Bene Magazin | Fotos: Adveniat