Der Prophet Jona sitzt schmollend unter einem Rizinusstrauch. Er hat geliefert – brav gepredigt, das Ende angekündigt, göttlichen Flächenbrand in Aussicht gestellt. Und dann? Nichts. Keine Zerstörung, kein Donner, kein himmlisches Armageddon. Stattdessen: Gott zieht die Apokalypse zurück. Die Bibel kleidet diesen Gedanken in die spannende Geschichte von Jona.
Wegen Reue. Wegen Einsicht. Wegen Barmherzigkeit. Was für ein Reinfall für Jona. „Ich bring das nicht fertig“ sagt Gott in der Erzählung zu Jona. Dieser hat sich aufgeregt, dass Gott so barmherzig zu den Menschen in Ninive ist. Schluss machen mit dem endlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Der Mann ist Prophet, kein Feelgood-Influencer! Wenn schon Weltuntergang, dann doch bitte mit Knalleffekt.
Moralischer Stolz
Und nun? Sitzt er da wie ein frustrierter X-User, dem der Shitstorm durch ein missverständliches Emoji entgleitet ist. Dabei liegt in dieser Szene – Jahrhunderte alt, sandig, orientalisch, biblisch – etwas ziemlich Zeitloses. Es geht ums Rechthaben. Und ums Loslassen. Jona will Konsequenz. Gott will Gnade. Jona zählt Sünden. Gott zählt Chancen. Das ist unbequem. Für alle, die gerne im Namen der Gerechtigkeit andere festnageln. Es hat schließlich seinen Reiz, wenn die anderen mal richtig eins auf den Deckel kriegen. Wer von uns kennt nicht dieses „Endlich mal klare Kante!“ Was für ein Gefühl, wenn einer über die Stränge schlägt? Moralischer Stolz ist eine Droge. Auch in den christlichen Kirchen übrigens.
Gnade vor Recht
Und dann kommt Gott – ausgerechnet der – und sagt: „Ich kann das nicht.“ Kein Strafgericht. Keine göttliche Cancel-Culture. Sondern Vergebung. Warum? Weil Menschen sich ändern können. Weil Umkehr möglich ist. Weil eine zweite Chance manchmal klüger ist als ein sauberer Schlussstrich. Gott, dieser große Unberechenbare, zeigt in Ninive, dass Liebe mehr Macht hat als Groll. Dass Mitleid stärker sein kann als Moral. Und dass es nicht feige ist, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Vielleicht ist das die eigentliche Zumutung dieser alten Geschichte: dass uns ein göttliches Herz begegnet, das sich nicht an der Logik von Strafe und Schuld festhält. Jona versteht das nicht. Und trauert lieber um den Rizinusstrauch, der über seinem Kopf in der Hitze verdorrt. Und Gott so: „Wie sollte ich nicht um die Menschen einer ganzen Stadt besorgt sein – wenn dir schon das Schicksal einer einzige Pflanze derart nahe geht?“ Da ist schwer was gegen zu sagen.
Peter Otten