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Lebendige und neue Fragen um Loslassen und Aufbrechen

22. Oktober 2024

In meinem Büro in der österreichischen Justizanstalt (JA) Wien-Josefstadt befindet sich ein Bild, das ein langjähriger Inhaftierter der JA Graz-Karlau vor einigen Jahren für einen internationalen Kunstwettbewerb gemalt hat. Es heißt „the meeting“, könnte aber ebenso gut „the pilgrimage“ heißen. Im Wesentlichen zeigt es einen Prozess. Ein gemeinsames Voranschreiten in aller Unterschiedlichkeit auf ein gemeinsames lebendiges Ziel hin.

Dieses Ziel bietet Wohnungen und Lebensräume und unweigerlich wird man als Christ an Johannes 14, 2 erinnert: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen.“ Diese Wohnungen aus Gott und in Gott, sind jedoch Vision und Zukunft. Sie sind das, was Christen „das himmlische Jerusalem“ nennen, zu dem wir unterwegs sind. Hier auf dem Weg haben wir nur Zelte. Die Wahrheit, die Sicherheit, die Erkenntnis liegen vor uns und weisen uns den Weg, aber wir haben sie noch nicht erreicht. Wir sehen den großen Baum in der Ferne und gehen darauf zu. Einige kniend, andere gehend, manche schnell und manche langsam. Bekleidete und Nackte, Junge und Alte, Betende und Tratschende. Schweigende und Singende, die aus dem Osten und die aus dem Norden, die aus dem Süden und die aus dem Westen. Manche sind gestern losgegangen, manche vor 2000 Jahren. Manche haben helle Haut und manche Dunkle. Männer und Frauen und solche, die sich nicht zuordnen lassen. Die, die heterosexuell lieben und die, die homosexuell lieben, genau wie die, die nur sich selber lieben und die, die nicht lieben können und es vielleicht doch wollen. Fleißige und Faule. Die, die alles richtigmachen und die, die keinem Fehler ausweichen. Die, die alles wissen und die, die sich alles sagen lassen. Die, die bewusst auf das Ziel zugehen und die, denen das Ziel egal ist. Sie alle gehen doch dem Ziel entgegen. Allein. Gemeinsam. In Gruppen, Verbänden, Parteien und Kirchen.

Aufbruch ist Zeichen des Glaubens

Vielleicht haben Sie den Eindruck, ich wolle alle Differenzen auflösen, wolle ein Wohlgefühl der Harmonie beschwören oder gar alles relativieren. Nichts liegt mir ferner. Meine Einladung ist die, die Zelte unserer Pilgerschaft sehr privat, sehr persönlich, sehr individuell zu gestalten. Das Zelt des Islam wird gestaltet, von denen die in ihm leben. Das Zelt der Orthodoxie, wird gestaltet, von denen die in ihm leben. Und so fort… Meine Einladung ist aber die, gemeinsam aufzubrechen und die ideologischen Gedankengebilde, die elfenbeinernen Türme des Glaubens, angesichts eines Gottes, der größer ist, als unser Denken, einzutauschen für ein Zelt. Die angestammten Grundstücke, die unsere Beweglichkeit und Freiheit blockieren, zurückzulassen zu Gunsten einer Dynamik der Wanderschaft. Wir sind nicht einfach abrahamitische Religionen, weil wir uns auf Abraham als unseren Stammvater berufen, wir sind es dann, wenn wir uns dem Aufbruch als Ur-Motiv der Abrahams-Geschichte selber nicht verweigern: „Verlass Dein Land, Deine Verwandtschaft und das Haus Deines Vaters. Geh in das Land, das ich Dir zeigen werde.“ Abraham, der erste Pilger, verließ nicht einfach nur die Heimat, er verließ damit alles, was ihm lieb und teuer war. Alle Sicherheit, alle Erkenntnis und alle Ideologie. „Kinder Abrahams“ müssen daher jederzeit zum inneren Aufbruch bereits sein. Aufbruch tut weh. Aufbruch erfordert Mut. Aufbruch ist ein Zeichen des Glaubens.

Infragestellung von Ideologien

Fundamente des Glaubens kann man nicht so einfach zurücklassen, nicht verleugnen und nicht aufgeben, man muss sie irgendwie mittragen. Ohne sie wird Glaube diffus und beliebig. Glaubensfundamente kann man mittragen, indem man sie als Schrift gewordene Weisung, als Kodex mit sich trägt, man kann es aber auch tun, indem man den lebendigen Geist Gottes quasi als Weggefährten in seinem Zelt beherbergt, indem man sich mit ihm austauscht und auseinandersetzt. Vielleicht sogar damit, dass man ihn als eigentlichen Herrn des Zeltes betrachtet. Glaube bleibt damit lebendig und dynamisch und vielleicht auch etwas weniger anfällig für Fundamentalismen. Fundamente sind gut, Fundamentalismen sind es nicht. Die lebendige Beziehung und Auseinandersetzung mit dem Geist Gottes ist das, was die Katholische Kirche als „Tradition“ bezeichnet. Wenn wir uns also nicht allein auf die Heilige Schrift als Fundament unseres Glaubens beziehen, sondern auch auf die Tradition, dann meinen wir damit nicht, wie oft fälschlich vermutet wird das Festhalten am Überlieferten um jeden Preis, sondern im Gegenteil, das stetige und lebendige neue Fragen, das Loslassen und Aufbrechen. Tradition bedeutet stets neu miteinander und mit Gott darüber zu reden was uns beschäftigt, bewegt und besorgt. Tradition zu wahren kann meines Erachtens nichts anderes bedeuten, als treu im Mut zum Aufbruch zu sein, treu im Mut zur Metanoia – der stetigen Infragestellung eigener Ideologien und Wahrheiten. Wer glaubt Tradition zu wahren bedeute alles so zu lassen wie es ist, gleicht einem Museumswärter und Totengräber, keinesfalls aber einem der sich sorgt um Seelen.

Seelsorgerliche Arbeit im Gefängnis

Ich werde vielfach mit der Frage konfrontiert, was wir denn tun, um die Inhaftierte auf den richtigen Weg zurückzuführen, bzw. wie wir ihnen helfen zum Glauben und zu Gott zu finden. Diese Fragestellung stellt die Religionen, die Kirchen und damit ihrer Vertreter und das, was sie vermitteln wollen, die Glaubensinhalte, ins Zentrum. Diese Haltung ist genuin missionarisch, da sie danach fragt, was denn den Gefangenen zu bringen sei, was ihnen gelehrt werden müsse und was sie zu befolgen hätten. Wir scheinen, nicht selten aus eigener Erfahrung, sehr gut zu wissen, was der andere braucht, um zu einem gelungenen Leben zu gelangen. Und somit liegt der Fokus eigentlich auf uns. Das, was ich für gut und richtig erachte, für lebenswert und nützlich – in diesem Fall meine Religion – kann und muss doch dem anderen genauso dienlich sein. Es geht um die Lehre und wenn wir ganz ehrlich mit uns sind, um uns selbst.

Sie alle, wissen, dass Seelsorge so nicht funktioniert. Die Antwort auf die Frage, was wir denn als Seelsorgende im Strafvollzug tun, muss eigentlich lauten: nichts! Wir sind einfach nur da! Was wir denn sagen: nichts! Wir hören einfach nur zu! Damit werden wir selber zum Sakrament, was nichts anderes bedeutet, als dass wir selber zu einem sichtbaren Zeichen der unsichtbaren Wirklichkeit der Liebe Gottes werden, die keinen Menschen verlässt. Ein Wort des verstorbenen Aachener Bischofs Klaus Hemmerle aus dem Jahr 1994 ist mir hierfür zum Leitmotiv geworden: „Lass mich Dich lernen, Dein Denken und Sprechen, Dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich Dir zu übermitteln habe.“ Die Botschaft des eigenen Glaubens verschwindet mit dieser Haltung nicht, sie tritt zurück in eine zweite Reihe. Sie macht sich aber auch vulnerabel und das fordert Demut. Im Zentrum steht der Mensch nicht die Religion. Christlich gesprochen ist das kein Widerspruch und erst recht kein Skandal. Denn, wenn oder gar weil der Mensch im Zentrum steht, steht Gott im Zentrum. Denn „alles, was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“

Idee von Heimat vermitteln

Die Lebensrealität des konkreten Menschen verlangt Interesse, Achtung und Achtsamkeit. Die Inhaftierten in den Gefängnissen sind schnelle Antworten auf Fragen, die sie nicht gestellt haben, gewohnt. Wir als SeelsorgerInnen bieten Raum für Ihre Fragen und Zeit für Ihre Antworten. Füllen wir um Gottes Willen nicht diese Frei- und Spielräume mit dem, was wir selbst zu brauchen meinen. Sie merken, auch in dieser Haltung kommen wir zurück auf Zelt und Pilgerschaft. Es geht nicht darum, die Menschen in unsere Straße und unser Haus zu führen, sondern Sie ein Stück weit auf ihrem eigenen Weg zu begleiten und kennenzulernen. Es geht darum, ihnen in der Gemeinschaft mit uns eine Idee von der Heimat zu vermitteln, die wir selbst vielleicht im Glauben an G*tt in uns tragen und mittragen. Carolin Emcke schreibt in ihrem Buch „Gegen den Hass“: „Diejenigen, denen die Subjektivität genommen werden sollte, deren Haut, deren Körper, deren Scham nicht respektiert wird, die nicht als Menschen, als Gleiche, sondern als „Asoziale“ als „unproduktives“ oder „unwertes“ Leben, diejenigen, die als „Perverse“, als Kriminelle, als Kranke, als ethnisch oder religiös „Unreine“ oder Unnatürliche kategorisiert und damit entmenschlicht werden, sie alle gilt es wieder als Individuum einzubinden in ein universales Wir.“

G*tt wohnt im Gefängnis

Letztlich heißt das, mutig genug zu sein um sich in den Strom der Zeit, mit all seinen Strudeln aus Verurteilung, Ausgrenzung, Abwertung und Ächtung, seinem social distancing und seiner cancel culture hineinzuwerfen, jedoch nicht als Getriebene aufzugehen in seinem Strom, sondern als aktiv Teilnehmende und Gestaltende immer wieder neues fruchtbares Land zu bilden. Uns aber gleichzeitig gemeinsam berühren zu lassen, von denen die mitgerissen werden und eine Gemeinschaft zu bilden. Eine Gemeinschaft in Bewegung. Zueinander und zur Vereinigung mit dem Ziel, das alle eint, welchen Namen wir ihm auch geben mögen. Und wo immer auf dieser Reise wir auch sein mögen, nie gibt es einen Ort, wo G*tt, das Heilige, das Höchste, die Liebe, das Sein an sich, nicht wäre. Kein Aufbruch, kein Auszug ist also jemals ein Auszug weg von Gott. Kein einziger Centimeter des Weges verläuft ohne ihn. Selbst die Abwege und Ab-Orte der Welt, sind seiner Gegenwart voll. Eine kleine Geschichte aus den Erzählungen der Chassidim gesammelt von Martin Buber berichtet: „Als Rabbi Jizchak Meir ein kleiner Junge war, fragte ihn jemand: „Jizchak Meir, ich gebe Dir einen Gulden, wenn Du mir sagst, wo G*tt wohnt.“ Er antwortete: „Und ich gebe Dir zwei Gulden, wenn Du mir sagen kannst, wo er nicht wohnt.“ Zeigen und beweisen wir den uns Anvertrauten doch in gemeinsamer Anstrengung, dass G*tt im Gefängnis und auch in Ihnen wohnt.

Auszug aus der Ansprache von Dr. Jonathan R. Werner anlässlich der Österreichischen Gefängnisseelsorge-Tagung | 28. Oktober 2024

 

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