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In der Familie haben wir auch solch einen Judenstern

26. Februar 2020

Mucksmäuschenstill ist die Atmosphäre, als Harry Rothe, ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde im ostwestfälischen Herford, das Wort ergriff. Besonders daran ist, dass er an einem Ort ist, an den er nicht so einfach hinkommen kann. Inmitten der Stadt Herford liegt die JVA Herford. Hierhin wurde der Zeitzeuge eingeladen, um mit jugendlichen Inhaftierten ins Gespräch zu kommen. Mit bewegter Stimme berichtet Rothe von seiner Kindheit im niederländischen Den Haag, wo er „versteckt“ wurde. Und er erzählt von seinen Erinnerungen als achtjähriges Kind im Konzentrationslager Theresienstadt und Bergen-Belsen.

Der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Herford-Detmold, Harry Rothe, ist für seine Verdienste mit der Bundesverdienstmedaille ausgezeichnet worden. Rothe kam 1937 in Amsterdam zur Welt. 1944 wurde er nach Bergen-Belsen und Theresienstadt deportiert. Trotz dieser Erlebnisse entschied er sich für ein Leben in Deutschland. Seit 1953 wohnt er in Herford, woher seine Mutter stammte. Rothes Engagement in der örtlichen jüdischen Gemeinde begann 1982 als zweiter Vorsitzender. Nach der Wende sah Rothe seine Hauptaufgabe darin, die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion zu integrieren. Seine Aufgabe war unter anderem der Wiederaufbau der 2010 eingeweihten Synagoge in Herford, gegenüber der Katholischen Kirche.

Ruhig und gelassen berichtet Harry Rothe vor über 60 jugendlichen Inhaftierten und Bediensteten in der Anstaltskirche.

Rothes Hobby geht in eine ganz andere Richtung. Der mehrfache deutsche Meister und Europameister im Bahnengolf betrieb beruflich auch ein Geschäft für Bahnengolf-Sportartikel. „In Israel hätte ich nicht sesshaft werden können, weil es dort nur eine Golfbahn gibt“, sagt Rothe scherzhaft. Schnell wird er wieder ernst: „Geplant war, dass wir 1947 nach Südafrika auswandern. Aus diesem Plan ist Gott sei Dank nichts geworden.“ Seine Mutter ist nur 48 Jahre alt geworden. Als Kind habe er „nur 13 Jahre etwas von ihr gehabt.“ Rothe kam nach der Befreiung in ein jüdisches Kinderheim in Lüneburg und später auf die Insel Wangerooge. Dort war er zumindest mit seiner einjährigen älteren Schwester zusammen.

Nach dem Einmarsch der Deutschen 1944 in den Niederlanden ist Rothe einer Familie in Den Haag untergekommen. Diese hatten mit seiner Schwester noch andere zwei jüdischen Kinder beherbergt. Durch einen Nachbar wurden sie verraten und dementsprechend wurden sie nach Theresienstadt und später nach Bergen-Belsen deportiert. Er spüre keine Rachegedanken, weil er später in Herford gut integriert wurde. „Als Kind verstand ich nicht, warum ich dorthin gebracht wurde. Ich erinnere mich, als im KZ Theresienstadt – in der heutigen Tschechei – das Rote Kreuz angekündigt wurde. Alles wurde blizblank geschrubbt und die Gärten schön gemacht. Man hätte meinen können, es wäre alles in Ordnung.“

Die Frage eines jugendlichen Gefangenen, „ob er den überhaupt etwas hätte ändern können“, antwortet Rothe mit einem klaren „Nein“. Er führt fort: „Als Kind konnte ich nichts ändern. Allerdings war ich einmal in der Straßenbahn ohne Judenstern unterwegs und ich sagte laut zu einem Fahrgast, dass wir in der Familie ebenso solch einen Judenstern haben. Dass dies nicht gut ankam, war klar.“ Ein Gefangener ergreift das Mikrofon, lacht erst verschmäht, bevor er die Frage formuliert, „ob er Hitler begegnet sei?“ Rothe bleibt gelassen: „Hitler bin ich nicht begegnet. Wie sollte ich auch. Ich war Kind und konnte die politischen Umstände nicht einordnen.“ „Wie so manche hier, konnte ich kein Deutsch sprechen. Von der menschenverachtenden Haltung der Nationalsozialisten hatte ich keine Ahnung. Ich musste als jüdischer Junge die Konsequenzen aushalten.“

Auf die Frage, ob er in der heutigen Zeit wieder Tendenzen der Verfolgung gegenüber „Anderen“ erlebe, antworte er: „Nicht die Religion, die Sprache oder die Nationalität sind wichtig. Wir sind alle Menschen und das zählt.“ Dafür bekam er spontan Applaus. Und doch sieht Rothe eine Gefahr in neuen Feindseligkeiten, wie beispielsweise die Haltung der Repräsentanten von der Partei AFD. „Ich kann und will als SPD Mitglied die Überzeugungen, wie die eines Höcke in Thüringen, nicht teilen“, sagt der 83 jährige klar.

In mehreren Workshops haben sich jugendliche Inhaftierte zusammen mit dem Integrationsfachdienst zum Thema „Antisemitismus“ beschäftigt. Daraus entstand der Wunsch, mit einem Zeitzeugen zu reden. „Mit einem Menschen zu sprechen, der das alles erlebt hat, ist schon etwas anderes“, sagt der 21 jährige Omar und fügt hinzu: „Herr Rothe hat nicht erzählt, was alle über die Geschichte  wissen. Er hat erzählt, was er persönlich erlebt hat. Das kam voll rüber. Danke dafür. Ich werde mich daran erinnern. Bestimmt.“

Michael King | JVA Herford

 

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