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Im peruanischen Gefängnis, Block 16 für Sexualstraftäter

27. Juli 2023

Was wird gebraucht, um Opfern und Tätern helfen zu können? Das will die Oldenburgerin Daniela Hirt in Lima weiterentwickelt wissen. Die Diplom-Sozialpädagogin und Traumapädagogin stellt das Restaurative Justice Konzept und die Umsetzung des Täter-Opfer-Kreis (TOK) im größten Gefängnis Perus im Penal de Lurigancho dem dortigen psychologischen- und dem Sozialdienst vor. Durch persönliche Kontakte mit einer Peruanerin vom Ministerio Público (Staatsministerium) reiste sie nach Lima.

Das betroffenenorientierte Arbeiten im Strafvollzug (BoAS) ist ein auf Wiedergutmachung ausgerichtetes Handlungskonzept. Die Umsetzung dieses Konzeptes erfolgt als restorative justice Projekt in Justizvollzugsanstalten wie beispielsweise in der JVA Bielefeld-Brackwede. Bei der Durchführung wird ein Raum geschaffen, indem sich Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind, und TäterInnen, geschützt und professionell begleitet, begegnen können. Ziel des Projektes ist, dass die Tatfolgen für die Menschen, die von Straftaten betroffen sind, besser verarbeitet werden können und sich bei den inhaftierten StraftäterInnen (mehr) Opferempathie entwickelt. Perú mit der Hauptstadt Lima hat andere Realitäten. Trotzdem können Erfahrungen ausgetauscht und Neues dazugelernt werden.

Zellentrakt 10 im Gefängnis von Lurigancho in Peru. Das Gefängnis, das ursprünglich für 2000 Gefangene geplant war, ist zur Zeit mit fast 10000 Häftlinge belegt. Hier arbeitet Norbert Nikolai aus dem Bistum Essen. Fotos: Adveniat

Gefangene in jeweiligen Blöcken autonom

San Juan de Lurigancho gehört mit einer Bevölkerung von über einer Million EinwohnerInnen zu den bevölkerungsreichsten Distrikten Limas. Hier befindet sich das Gefängnis Penal de Lurigancho. Das Gefängnis mit den 21 Blöcken ist für 3000 Gefangene ausgelegt. Dort sind jedoch etwa 10.000 Gefangene. Viele wurden ohne Strafprozess inhaftiert und leben ohne rechtskräftige Verurteilung im selben Block mit verurteilten Straftätern. Die Inhaftierten können innerhalb der Gefängnismauern mit Waffen, Alkohol, Drogen und anderen Waren handeln und sich frei bewegen.

Sämtliche Vorgänge wie Gesetzgebung, Reinigung und Ernährung werden von den Gefangenen in den jeweiligen Blöcken autonom geregelt. Viele Inhaftierte können ohne die Hilfe von Familien im Gefängnis kaum klarkommen. Ohne Geld müssen für die anderen Häftlinge arbeiten z.B. ihnen sexuelle Dienstleistungen anbieten. Die Schlafplätze in den Blöcken sind limitiert, so dass den mittellosen Häftlingen und denjenigen, welche am unteren Ende der Hierarchie stehen nur die Übernachtung auf den Gängen oder außerhalb der Gebäude möglich ist. An den Wochenenden findet in einem Block des Gefängnisses eine Diskothek mit alkoholischen Getränken und Prostituierten statt. Deshalb ist HIV das größte Gesundheitsproblem in dem Gefängnis Lurigancho. An Besuchstagen und den Wochenenden haben Männer ungeschützten Sex mit Prostituierten, was zu einer starken Ausbreitung der Viruserkrankung beiträgt. Weitere Infektionsquellen sind Tätowierungen und Injektionsnadeln beim Drogenmissbrauch.

Empfang im Block 16

Als wir im Gefängnis ankamen wurden ich, die Dolmetscherin, ihr peruanischer Ehemann und eine Schweizer Sozialarbeiterin, die uns begleitete auf einen Freiplatz geführt, wo sich bereits alle Inhaftierten des Blocks 16 befanden. Es war eine Tonanlage aufgebaut und dem gegenüber einem festlichen langen Tisch. An dem sollten wir Platz nehmen und uns wurde Milchreis, Cracker und Wasser serviert. Ich war hochgradig erstaunt als ich realisierte, dass die Inhaftierten ein Programm für uns vorbereitet hatten und eine enthusiastische Rede gehalten wurde. Ich hatte nicht mit solch einem Willkommen gerechnet, obwohl ich nach knapp vier Wochen in Peru eigentlich wissen müsste, dass hier immer alles anders kommt, als ich mir in meinem Kopf zurecht denke.

Ich hatte mich vorbereitet auf eine Gefängnisführung und dass ich anschließend einen Input gebe über das Konzept BoAS und die Umsetzung des Täter-Opfer-Kreises in der JVA Bielefeld-Brackwede. Anschließend wollte ich mit dem Team Penal de Lurigancho in den fachlichen Austausch gehen und etwas über ihr TAS-Programm erfahren, was sie im Block 16 mit den Sexualstraftätern durchführen. So sollte es auch kommen, doch zuerst bekamen wir von den Inhaftierten selbstgeschriebene Songs und Gedichte zu hören und traditionelle Tänze zu sehen. Der Tenor aller Darbietungen war, dass die Inhaftierten nun wüssten, was falsch gelaufen sei in ihrem Leben, sie hätten im Laufe der Inhaftierung eine andere Perspektive eingenommen und würden weiterhin auf eine gute Resozialisierung hoffen. Wir waren berührt von den Darbietungen. Ich überprüfte mein Gefühl sehr genau, ob wir „Vorzeigehäftlinge“ präsentiert bekamen, die angepasst waren, in der Hoffnung auf Haftvorteile oder ob es wahrhaftige Reflexionen und Veränderungen von Denken und Fühlen waren.

Spielende Kinder an der Außenmauer des Gefängnisses „San Juan de Lurigancho“.

Opferorientiertes Arbeiten

Ich mag mich täuschen, doch mein Gefühl sagte mir, dass dort Männer standen, die tatsächlich etwas begriffen haben und die sich ernsthaft ein anderes Leben nach der Haft wünschen als vor der Haft. Nach einer Stunde „Vorstellung“ bekamen wir mehrere Geschenke überreicht und gingen weiter in eine Art Käfig, um dort miteinander zu arbeiten. Wir besuchten auf dem Weg dorthin die Bibliothek, wo wir erfuhren, dass innerhalb des Behandlungsprogrammes mehrere Schriftsteller mit den Inhaftierten Schreibworkshops abgehalten haben und eine der Geschichten sogar einen Preis gewonnen hat. Ich werde mir die Geschichte durchlesen und Wort für Wort ins Deutsche übersetzen. Meinem Vortrag wurde interessiert gelauscht und viele Fragen zur Umsetzbarkeit, zu den Zielgruppen und zum Erfolg gestellt. Die Idee, dass opferorientiertes Arbeiten im Gefängnis möglich und denkbar ist, war für die KollegInnen aus dem psychologischen- und dem Sozialdienst sehr inspirierend. Dass Betroffene und Inhaftierte zusammenkommen war für alle eine neue Idee. Danach wurde uns von dem Behandlungsprogramm mit den Sexualstraftätern berichtet.

TAS Behandlungsprogramm

Das TAS-Behandlungsprogramm ist ein interdisziplinäres und spezialisiertes Behandlungsprogramm von Sexualstraftätern, die das erste Mal im Penal de Lurigancho inhaftiert werden. Es wird in vier Phasen durchgeführt: Sensibilisierung und Motivation, Suche nach Veränderung, persönliche Entwicklung und positiver Lebensstil und Lebensweise sowie Bewältigungsstrategien für psychosoziale Risiken. Die Module umfassen Menschenrechte, Gender, Integrität, Interkulturalität, Intersektionalität, Intergenerationalität; sowie Inhalte aus dem Risiko-Bedürfnis-Responsivität-Modells RNR. Das Risiko-Bedürfnis-Responsivität-Modell ist ein Modell, das in der Kriminologie verwendet wird, um Empfehlungen zu entwickeln, wie Gefangene auf der Grundlage des Risikos, das sie darstellen, und dessen, was sie brauchen, bewertet werden sollten und in welchen Umgebungen sie untergebracht werden sollten, um die Rückfallquote zu verringern. Es wurde erstmals 1990 vorgeschlagen und basiert auf den Forschungen, die in den 1960er und 70er Jahren unter anderem von Lee Sechrest und Ted Palmer zur Klassifizierung von Straftäterbehandlungen durchgeführt wurden. Es wurde hauptsächlich von den kanadischen Forschern James Bonta, Donald A. Andrews und Paul Gendreau entwickelt. Es gilt als das beste Modell, das es gibt, um die Behandlung von Straftätern zu bestimmen.

Das Programm wird als einzige Behandlungsmaßnahme in Gefängnissen vom peruanischen Strafvollzugssystem INPE finanziert und als Beitrag zur öffentlichen Sicherheit und zum sozialen Wohlergehen des Landes verstanden. Der Erfolg scheint sehr hoch zu sein. Uns wurde erzählt, dass in den letzten Jahren nur einer von 600 entlassenen Sexualstraftätern erneut inhaftiert wurde. Nach vier Stunden eines intensiven Miteinanders verließen wir voller Eindrücke das Gefängnis. Von beiden Seiten ist ein weiterer Austausch gewünscht. Ich hoffe, dass ich im kommenden Jahr noch einmal die Möglichkeit bekomme nach Peru zu reisen und bin gespannt, ob sich etwas in Richtung opferorientiertes Arbeiten im peruanischen Gefängnis bewegt hat.

Daniela Hirt

 

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