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Von Lockerungen ist in der Gefängniswelt die Rede

1. Mai 2020

„Wir kriegen das gebacken.“ Dieser aufmunternde Werbeslogan einer Großbäckerei könnten „wir“ in der Corona-Krise, im gleichen Boot rudernd, den Gefangenen und den Menschen draußen wünschen.

Wenn Menschen um ihr Leben kämpfen, geschieht dies in diesen Tagen auf unseren Intensivstationen und ist beängstigend nah; wenn Menschen um ihr Leben kämpfen, geschieht dies sonst im Mittelmeer und ist entfernte Normalität. Zugegeben, diese These ist ziemlich zugespitzt, und natürlich kann die gegenwärtige Krise nicht mit dem Versagen der EU im Hinblick auf die Rettung von Flüchtlingen verglichen werden. Fest steht aber: sowohl Flüchtlinge als auch Covid-19-Patienten sterben den Erstickungstod. Also sitzen wir doch im gleichen Boot?

Die gesellschaftliche Diskussion in den letzten Wochen war und ist von der Einschränkung von Grundrechten sowie über das Wie und Wann möglicher Lockerungen bestimmt. Von Lockerungen ist sonst meist nur in der Gefängniswelt die Rede: Wann bekomme ich endlich Ausgang, kann Familie und Freunde sehen, umarmen? Das ist eine Frage, die viele Inhaftierte im offenen Vollzug der JVA Bielefeld-Senne – nicht nur in dieser Zeit – umtreibt. Dieser Sehnsucht nach Freiheit, nach Normalität können Sie vermutlich gerade auch nachspüren. Also wieder das gleiche Boot?

Gefühlt in der selben Enge ersehnen wir uns – wie im Gefängnis – nach Lockerung. Foto: Konstantin Eulenburg | 4ximgefaengnis.de

Jemand von den Inhaftierten hat vor einigen Tagen gesagt, dass man den Menschen jetzt nur noch das Internet, Smartphone und Playstation wegnehmen müsse, damit diese halbwegs nachfühlen können, was Gefangensein überhaupt bedeute. Gewiss: bei aller Schuld, für die jemand zu (Un-)Recht in Haft ist, hat diese Person hier den tiefen Wunsch nach Verständnis, ja vielleicht sogar Empathie für ihre Situation geäußert. Jetzt sitzt ihr mal im gleichen Boot wie ich, jetzt begegnen sich unweigerlich unsere Lebenswelten, jetzt könnt ihr mal ahnen, wie es mir im Knast gehen könnte.

Und unsere Gesellschaft? Mir hat der Shutdown in den letzten Wochen eines gezeigt: auch wenn unsere Lebensbereiche höchst unterschiedlich sind und manchmal gar keine Berührungspunkte haben, sitzen alle doch im gleichen Boot. Empathie, gegenseitige Rücksichtnahme und Verständnis füreinander – darauf kommt es jetzt an. Darauf sollte es eigentlich immer in unserer Gesellschaft ankommen. Wenn Wirtschaft, Sport, Kirchen, Gastronomie etc. jetzt nur auf sich schauen, dann ist bestimmt nicht an alle gedacht, im Gegenteil: unsere Gesellschaft beginnt aus dem Ruder zu laufen.

Bei allen Diskussionen über die weitere (Wieder-)Öffnung unserer Gesellschaft: es braucht Maßnahmen, die niemanden über Bord werfen und seinem Überlebenskampf überlassen, sondern alle Lebenswelten mit ihren je eigenen Nöten im Blick haben. Bei aller Lust auf Freiheit und Selbstbestimmung muss gelten: für andere mitrudern, ohne das Ruder zu übernehmen. In solch einem Land will ich leben!

Mirko Wiedeking | JVA Bielefeld-Senne

 

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