Schmachtlappen oder Hungertücher wurden die Tücher genannt, die im Mittelalter in der Fastenzeit in den Kirchen hingen. Sie verhüllten den Altarraum, um der Gemeinde die Sicht aufs Allerheiligste zu verwehren. Jahrhundertelang war die Tradition in ganz Europa verbreitet. Inzwischen wird der alte Brauch als Kunstform wieder neu entdeckt. Wo bist du, Mensch? (Gen.3,9) Wo bist du in der Welt und im Knast mit ihren vielfältigen Herausforderungen? Für den Künstler Uwe Appold ist dies die Ausgangsfrage des neuen Hungertuches.
Auf blauem Grund breitet sich dunkle Erde aus. Von oben nach unten schmaler werdend, steht sie mit dem Ring und dem Haus in einer vertikalen Achse. Das Erdfeld ist zerklüftet. Dunkle Gipfel ragen wie Inseln aus dem helleren Ozean. Der Künstler hat dafür Erde aus dem Garten Gethsemane verwendet. Mit der so entstandenen Höhen- und Tiefenstruktur erinnert uns das Erdreich an die Erde als Heimat für alle Geschöpfe und als Lebensraum, der uns anvertraut ist. Zwölf größere, aus der Erde gesiebte Steine wurden eingearbeitet und in Rot und Gold gefasst. Sie stehen symbolisch für die zwölf Stämme Israels, die das von Gott verheissene Land bebauten, und für die Männer und Frauen, die Jesu Botschaft weitersagten.
Über dieser Erde schwebt ein markanter goldener Ring. Er bildet die optische Mitte des Bildes. Der Ring ist ein Symbol für den Kern unseres Glaubens: die Zusage Gottes, dass seine Liebe allen gilt. Allen Menschen, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, ist die gleiche Würde eigen. Für das Haus-Symbol im Ring wurde Erde vom Garten Gethsemane getrocknet. Die ungeformte Erde umgibt das Haus. Das Haus selbst aber ist von Menschenhand gemacht, begrenzt und gleichzeitig auch offen gehalten. In seiner Begrenzung vermittelt das Haus Sicherheit und ist Heimat. In seiner Offenheit lädt es uns ein, am unfertigen Haus unserer gemeinsamen Erde zu arbeiten.
Ver-rückte Welten wieder zentrieren?
Beim genauen Hinschauen stutzt man: Ring und Haus bilden nicht die geometrische Mitte des Bildes, sie sind leicht nach links verschoben, also ver-rückt. Denn die Harmonie zwischen Menschen, Gott und Natur ist gestört. Wie lässt sich diese Verschiebung wieder zentrieren? Die abstrakten Schriftzeichen in der linken unteren Ecke wecken Neugier und wollen entziffert werden.
Sie beziehen sich auf Christus, symbolisiert durch das rote Kreuz links und das weiße Namenszeichen von Jesus Christus, IX, auf der rechten Seite. In Christus sind Anfang und Ende, Himmel und Erde. Der Schriftzug endet mit einer aufrecht gestellten liegenden Acht als Zeichen der Unendlichkeit – Ausdruck dafür, dass Gott uns als aufrechte Menschen will.
«Mensch, wo bist du?», war Gottes Frage. Das Bild zeigt uns den Menschen in der Gestalt unten rechts. Sie ist rot-blau bekleidet. Der Mensch ist also nicht mehr nackt, wie im Paradies, aber damit auch nicht mehr unschuldig. In die geschwungene Linie aus Edelstahl ist der Name Jesu Christi eingekerbt. Im Kontakt mit dem Boden am Bildrand und mit zum Himmel hin geöffneten Armen scheint die Gestalt bereit zu sein, sich in den Dienst von Gott und Menschen zu stellen und Verantwortung zu übernehmen. «Wo bist du, Mensch?» – «Hier bin ich!»
Wie stehen wir zueinander? Gott gegenüber stehen
Nach der eingangs gestellten Frage stellt Gott eine zweite Frage: «Kain, wo ist dein Bruder?» (Gen 4,9) Mit dem Wahn vom Sein-wollen-wie-Gott beginnt eine Kette von Fehlern, die dazu führt, dass das Blut der Geschwister vergossen wird. Die beiden Fragen Gottes klingen auch heute nach: Wo stehen wir Gott gegenüber, und wie stehen wir zueinander? Eine Kultur des sich Wohlfühlens und die Ideologie des unendlichen Wachstums lullen die Menschen heute ein. Sie bieten aber keine Antwort auf Gottes Fragen. Sie machen taub für die Schreie der Menschen am Rande und der Schöpfung. Und lassen uns in Seifenblasen leben, die zwar schön, aber nicht mehr als schillernde Illusion sind.
Die Zerstörung der Lebensgrundlagen ist Tatsache, und eine Politik des «Weiter so!» kaum möglich. Die globalen Krisen verlangen nach gemeinsamem Handeln für unsere Welt, für das “eine gemeinsame Haus” (Laudato si‘, Papst Franziskus). Die Frage «Wo bist du?» wird zum “Wo seid ihr?”. Wir tragen die Verantwortung für unsere Erde, unser gemeinsames Haus. Dabei bleiben uns auch Leiderfahrungen nicht erspart. Wie ein Echo auf dieses “Mensch, wo bist du?” kann dann die Gegenfrage auftauchen: “Gott, wo bist du?” Der Künstler hat in das Erdfeld und den Goldring rote Farbe gemischt: Ausdruck von Gottes Passion für die Menschen. Com-Passion, Leidensweg und Leidenschaft zugleich. Ein neues Haus, ein neuer Himmel und eine neue Erde können Wirklichkeit werden! Eine neue Gemeinschaft, ein gutes Miteinander aller Menschen, ein anderes Verständnis von Fortschritt mit Raum für das Ewige, für Gottes Präsenz. “Mensch, wo bist du?” – “Hier bin ich!”, “Gott, wo bist du?” – “Mensch, hier bin ich.” Meditationsheft…
Hildegard Aepli
Künstler
Uwe Appold ist Designer, Bildhauer und Maler. Er lebt und arbeitet in Norddeutschland. Grundlage für seine Werke sind philosophische und religiöse Schriften, darunter die Bibel, Dichtung und Musik. In seinen Arbeiten sucht er nach Wegen der «Verkündigung mit anderen Mitteln». Unter seinen Werken finden sich auch zahlreiche Glasfenster für Kirchen und Sakralräume.