Die Vulnerabiltätsforscherin Hildegund Keul nimmt Lebenswelten homosexueller Männer in den Blick – inklusive des französischen Philosophen Michel Foucault.
Als ich 2004 in Bonn mit meiner Arbeit bei der Deutschen Bischofskonferenz anfing, brauchte ich für den Übergang ein Zimmer zum Übernachten. Das Albertinum lehnte meine Anfrage mit leicht empörten Unterton ab, da Frauen – gefährliche Wesen? – hier generell nicht übernachten durften. So landete ich in einer bunt gemischten WG, zu der auch ein offen schwul lebender Mann gehörte. Beim Frühstück erzählte er mir, dass er regelmäßig spätabends gleich nebenan in einen Bonner Park geht, einem Treffpunkt für Schwule, wo persönliche und sexuelle Kontakte entstehen und auch Prostitution betrieben wird. Das war meine erste Begegnung mit diesen prekären Heterotopien schwuler Existenz.
Etliche Jahre später konnte ich im Buch „Rückkehr nach Reims“ genauer nachlesen, was es mit diesen Orten auf sich hat. Der französische Soziologen Didier Eribon beschreibt dort eindrücklich, was es bedeutet, in einem schwulenfeindlichen Milieu aufzuwachsen, die vernichtenden Schimpfworte gegen Schwule lange schon zu kennen, sie sogar selbst verwendet zu haben – und dann schmerzlich einsehen zu müssen, dass man selbst damit gemeint ist. „Schwul zu werden heißt, sich ins Feuer von Vokabeln zu stellen, die man tausendmal gehört hat und deren verletzende Kraft man schon lange kennt, weil man ihnen, noch bevor sie einen bewusst und tatsächlich treffen, potenziell längst ausgesetzt ist. Eine stigmatisierte Identität geht einem voraus […] Es ist ein Begehren, das von einer Zerbrechlichkeit und einer bewussten, immer und überall verspürten Verletzlichkeit gekennzeichnet ist“.
Homophobe Aggressivität
Auch Eribon suchte als Jugendlicher Cruising-Areas auf. Sie waren für ihn eine Verheißung, denn dort konnte er nicht nur schwule Menschen kennenlernen, dort gab es nicht nur die erhoffte Chance auf Sex mit Männern, sondern dort lebte eine schwule Kultur, in der es schlicht selbstverständlich war, schwul zu sein. Selbstverständlich allerdings nur für jene Menschen, die dazugehörten. „Cruising-Areas“ waren und sind heute noch immer höchst gefährliche Orte. Menschen kommen extra vorbei, um die Schwulen mit den übelsten Schmähworten zu beschimpfen. Sie versuchen herauszufinden, wer zu diesen Beschimpften gehört, um sie anschließend verfolgen zu können: am Arbeitsplatz, in der Familie, im öffentlichen Raum. Schlägertrupps tauchen auf und toben ihre homophobe Aggressivität aus. In vielen Ländern der Erde macht die Polizei heute noch Razzien, durch die man ins Gefängnis kommen kann und der Bestrafung wegen „Unzucht“ unterworfen wird. Cruising-Areas sind das Gegenteil eines Safe-Place, nach dem Schwule ständig zu suchen gezwungen sind. Sie sind eine Heterotopie und damit ein Kulminationspunkt erhöhter Vulnerabilität. Weiterlesen auf feinschwarz.net…