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Kleines hausgemachtes Glück: Mensch sein zu dürfen

2. März 2021

Gibt es das: So etwas wie Glück im Gefängnis? Wie kann man von Glück reden, wenn inhaftierte Frauen ihre Kinder in eine Pflegefamilie abgeben müssen und sie vielleicht die ganze Haftzeit über kein einziges Mal sehen können? Soll das Glück sein: Nicht selbst bestimmen zu können, wann ich aufstehe, wann ich einen Spaziergang mache, wann oder was ich auf Facebook oder Instagram poste, mit wem ich per Smartphone Nachrichten austausche oder wann ich daddle? Wie kann jemand auch nur eine Spur von Glück empfinden, wenn man durch die Gefängnisstrafe jeden Tag an sein verkorkstes Leben erinnert oder von Schuldgefühlen geplagt wird? Die Gefängnisseelsorgerin Doris Schäfer und eine Inhaftierte zu „Glück“ aus der Justizvollzugsanstalt Würzburg.

Es gibt zweifellos viele Tränen, viel Verzweiflung, Ausweglosigkeit und Jammern unter inhaftierten Frauen. Es gibt auch immer wieder zermürbende Anstrengung, Enttäuschung, Frustration und Seufzen bei mir als Gefängnisseelsorgerin. Und doch gibt es so vieles, was die Bilanz eindeutig ins Positive wendet, sodass mir meine Arbeit auch nach 10 Jahren noch jeden Tag aufs Neue Freude macht. Auch die Frauen berichten mir immer wieder von ihren Glücksmomenten. Meist ist es kein offensichtliches Glück, sondern erschließt sich den Betrachtenden erst auf den zweiten Blick.

Seelsorge ist „Glückssträhne“

Eine Frau zum Beispiel, die nur noch aus Haut und Knochen besteht, spricht vom Glück, festgenommen worden zu sein. Wenn man ihr zuhört, versteht man, was sie meint: „Die Sucht hat mich ruiniert, ich weiß nicht, wie lange ich noch überlebt hätte. Jetzt kann sich mein Körper wieder erholen und ich kann neue Kraft schöpfen, um einen neuen Anlauf zu nehmen, clean zu bleiben.“ „Ich freue mich riesig, Sie zu sehen!“, verkündet eine andere, neu inhaftierte Frau. „Sie haben mir bei meinem letzten Gefängnisaufenthalt wirklich weitergeholfen. Draußen habe ich niemand, der sich Zeit für mich nimmt, der mich und meine Probleme achtsam behandelt und mir zuhört.“ Wieder eine andere spricht sogar von einer „Glückssträhne“, obwohl sie gerade erst von einem Krankenhausaufenthalt in die JVA zurückgekehrt ist und ihr kurz davor der Tod ihrer Oma mitgeteilt wurde. Sie empfindet trotz allem Glück, weil ihr während der Inhaftierung die Möglichkeit gegeben wurde, sich an einem Ohr operieren zu lassen, auf dem sie schon seit längerer Zeit nichts mehr hörte. Da ihr draußen die Krankenversicherung fehlte, wurde die Behandlung immer aufgeschoben. „Hier im Gefängnis hat der Arzt mein Problem erkannt und mir tatsächlich eine Operation genehmigt. Wahrscheinlich kann ich in Zukunft auf diesem Ohr wieder hören“, freut sie sich. Genauso froh war sie darüber, sich in der JVA von der verstorbenen Oma verabschieden zu können, obwohl eine Teilnahme an der Bestattung nicht möglich war. „Letzten Sonntag durfte ich für meine Oma hier in der Kirche eine Kerze anzünden und Sie haben eine Fürbitte für sie gesprochen Dafür bin ich sehr dankbar! Das alles habe ich bestimmt Gott zu verdanken. Es wird mir helfen, in Zukunft trotz unserer Armut so zu leben, wie er es möchte.“

Glück ist immer hausgemacht

Zwei Jahre Haft habe ich nun hinter mir, in ein paar Wochen geht es endlich nach Hause. Und da kommt auf einmal die Frage, was ist Glück hinter Gittern für dich? Lange nachdenken musste ich da nicht und ein Lächeln hatte ich in diesem Moment vor meinem inneren Auge. Da kamen mir Momente und Menschen in den Sinn. Meine Haftzeit war sehr bewegt. Die Zeit vorher hatte ich nicht viele Glücksmomente für mich. Familie, Freunde, Gesundheit – all das war damals in Frage gestellt. Doch dann kam kurz vor meinem Haftantritt mein Glück um die Ecke. Ein Mensch, der einfach da war für mich und meine Kinder, bedingungslos, liebevoll, eben nur um meiner selbst willen, ein Glück, das mich Gottseidank durch diese komplette Haftzeit getragen hat. Das Gefühl, egal was war, da ist jemand, der dir vertraut, obwohl er selbst noch nie Berührungspunkte mit Straffälligkeit hatte.

Das absolut größte Glück hinter Gittern ist es zu wissen, da gibt es ein Zuhause, dein Zuhause, da sind deine Kinder, euer gemeinsamer Glücksmoment. Viele hier haben den Bezug zu ihren Kindern verloren. Sie sind in Obhut genommen. Viele haben nicht einmal Kontakt zu ihnen oder bekommen keine Post. Ich empfinde es als megagroßes Glück, dass ich den Bezug nie verloren habe, dass meine Kinder stark geworden sind durch diese Zeit und dass es Menschen gab, die uns dabei unterstützt haben. Jeder Brief, jedes gemalte Bild, jeder Besuch, jedes Telefonat hat zu meinem Glück beigetragen. In einer der vielen guten Gespräche, die ich hier mit Bediensteten führen durfte, blieb mir dieser Satz im Gedächtnis: „Haft wird erst schlimm, wenn man draußen Menschen hat, die man vermisst. Wenn man nichts hat, kommt man leichter durch die Zeit.“

Wenn man das mit dem Glück nur auf hinter den Mauern bezieht, dann sind es diese ein bis zwei Menschen, die es einem hier drinnen leichter machen. Dazu gehört eine Umarmung, wenn man sich alleine fühlt, ein offenes Ohr, wenn einen die Sorgen draußen erdrücken, aber auch das unbeschwerte miteinander Lachen, zusammen Essen, eben Mensch sein zu dürfen, das kleine hausgemachte Glück. Wenn diese letzten Tage hier zu Ende sind, nehme ich mit, dass es nicht den Standard-Häftling gibt, sondern dass jeder hier drinnen mehr oder weniger eine Geschichte mit sich trägt, jeder sein eigenes Glück selbst in der Hand hat, aber vielleicht manchmal den Blick dafür verloren hat.

Und für mich nehme ich mit, dass ich glücklich bin, geliebt zu werden, Lieblingsmenschen zu haben, mit denen man das Glück spürt, und dass sie mich noch in ihr Herz lassen. Und so gehe ich mit einem Lächeln aus dieser Tür und hoffe auf glückliche Augen, die mich empfangen, und Arme, die ausdrücken: „Schön, dass du da bist!“ Mein Glück – mein großes und mein kleines Glück.

A.S. | Inhaftierte in der JVA Würzburg

Glück kann nicht weggespült werden

Für mich als Seelsorgerin ist es ein Glück, diese Momente mit den Gefangenen teilen zu dürfen. Ich habe gelernt, dieses Glücksempfinden unterscheiden zu können von der Befriedigung, die ich empfinde, wenn ich mir eine schicke neue Bluse kaufe und ich deswegen viele Komplimente ernte. Ehrlicherweise fühle ich mich auch irgendwie glücklich, wenn ich mich während des Lockdowns in meiner neuen Wohnung wohl fühle und die ersten Sonnenstrahlen auf der Terrasse genießen kann. Doch das Glück und die damit verbundene Freude sind tiefer, wenn ich hinter Gittern mit Frauen einen Gottesdienst feiern kann, den alle mit leuchtenden Augen verlassen. Aufgrund der Abstandsregeln können die Gottesdienste in der JVA Würzburg seit fast einem Jahr nur in kleinen Gruppen stattfinden, was jedoch zur Idee geführt hat, die Gefangenen wesentlich mehr bei der Vorbereitung und Gestaltung der Gottesdienste miteinzubeziehen.

Bei den Frauen werde ich fast schon bestürmt, weil viele ein nächstes Mal mithelfen wollen. Manch eine fühlt sich geehrt wegen der übertragenen Aufgabe, andere freuen sich, dass sie etwas Sinnvolles zustande bringen, viele sind begeistert, welche Ideen man gemeinsam entwickeln kann… Wenn eine Evangelienstelle die Fantasie der Frauen und den gemeinsamen Gedankenaustausch intensiv anregt und danach fast die Hälfte aller inhaftierten Frauen am Sonntagsgottesdienst teilnimmt, wenn im Gottesdienst eine große Aufmerksamkeit zu spüren ist und man die Anwesenheit Jesu fast mit Händen greifen kann, wie soll man da als Seelsorgerin nicht Glück empfinden? Ein Glück, das auch von der nächsten Enttäuschung oder vom Regenwetter am Montag nicht so schnell weggespült werden kann.

Etwas Gutes tun

Echtes Glück und tiefe Weihnachtsfreude durfte ich auch im vergangenen Advent erleben. Einige inhaftierte Männer der JVA Würzburg konnten die Sorge der Menschen „draußen“, auf die wegen des Lockdowns ein trauriges Weihnachtsfest wartete, gut nachempfinden. Schließlich wissen sie, was Weihnachten ohne Familie bedeutet. Deshalb hatten sie die Idee, als Trost einen Weihnachtsgruß zu versenden und auf diese Weise auch anderen die Möglichkeit zu geben, so wie sie den eigentlichen Grund für das Weihnachtsfest wiederzuentdecken. Mir wurde die Aufgabe übertragen, als Grußempfänger Menschen auszuwählen, die alleine, krank, alt oder mit Problemen belastet sind. Als die inhaftierten Frauen davon erfuhren, waren sie fast ärgerlich, dass ich „so schöne Sachen“ mit den Männern mache und sie dabei übergehe. Also bastelten wir auch mit den Frauen Karten, schrieben Grüße und verschickten sie.

Am Ende erschien es mir wie eine Vermehrung des Guten. Denn die Adressaten der Grüße bekamen im Vorfeld „als Vorwarnung“ von mir einen Anruf, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Immer mehr Menschen kamen mir dabei in den Sinn, die ich schon fast vergessen hatte, und mir wurden von den Angerufenen auch weitere Namen genannt. Die GrußschreiberInnen gaben sich alle Mühe und formulierten teilweise sehr herzliche und einfühlsame Briefe. Sie waren glücklich, etwas Gutes tun zu können, und die EmpfängerInnen der Weihnachtspost waren glücklich, in einer schwierigen Zeit nicht vergessen zu sein, sondern einen besonderen Weihnachtsgruß aus dem Gefängnis zu erhalten. Viele riefen nach Erhalt der Post bei mir wieder an oder schrieben mir, um sich zu bedanken. Und sie schrieben einen netten Gruß zurück ins Gefängnis, was auch dort wieder Freude bereitete.

Was für ein Glück, im Gefängnis gelandet zu sein

Wahrscheinlich ist es eines der Geheimnisse, die das Glück in sich birgt: Straftat, Freiheitsentzug, Pandemie, Lockdown und Einsamkeit müssen nicht zwangsläufig eine Anhäufung von Unglück sein. Wenn Unglück und Leid durch Achtsamkeit, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Solidarität und der Suche nach dem Guten überwunden werden, kann das Glück umso tiefer sein. Durch Teilen vermehrt es sich. Es ist auch nicht selbstverständlich, sondern es hat eine Geschichte und ist im echten Leben verwurzelt. Glück im Unglück ist wohl auch „nur“ Glück. Aber das Unglück macht das Glück zu etwas Besonderem und etwas Persönlichem, zu einem schützenswerten Gut mit Spuren und Kratzern, die vom Leben erzählen und dazu auffordern, sorgsam und liebevoll mit ihm umzugehen.

„Was für ein Glück für mich, dass ich im Gefängnis gelandet bin“, denke auch ich manchmal. Es ist ein Ort, an dem ich auf der einen Seite nie sein möchte – zumindest nicht ohne Schlüssel in der Hand –, an dem ich aber das Leben mit vielen ungeahnten und überraschenden Dimensionen kennenlernen durfte, weil Menschen, die gezwungen sind, kostbare Zeit ihres Lebens dort „abzusitzen“, mich immer wieder einladen, ihr Unglück und ihr Glück im Unglück mit ihnen zu teilen.

Doris Schäfer, Gefängnisseelsorgerin Frauenstation JVA Würzburg | In: Zeitschrift Frauenforum

 

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