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Im Justizvollzug wird eigentlich nicht gestorben

13. Oktober 2019

Seit dem letzten Hospiztag bin ich fünf Jahre älter geworden. Es tröstet mich, dass Sie auch nicht jünger geworden sind.  Mit den Jahren erleben wir, dass wir nicht am Tod allein sterben. Wer seinen Partner in den Tod begleitet, stirbt mit ihm mit. Beim Begräbnis unserer Mutter tragen wir ein Stück von uns selbst zu Grabe. Der Verlust eines Kindes ist tödlich für die Eltern. Der Suizid eines uns nahestehenden Menschen nimmt uns die Lust am Leben. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod.

Sterben ist nicht nur ein biologisches Phänomen, der Tod mehr als der Exitus. Mitten im Leben erleiden Gefangene, Obdachlose, Drogenabhänge den Tod vor dem Tod, den sozialen Tod – und der ist oft viel schmerzlicher als das Sterben selbst. Es tut weh, an den Rand gedrängt, gedrückt zu werden, ausgeschlossen, ausgestoßen aus der geschlossenen Gesellschaft. Ausgegrenzt aus der eigenen Familie. „Wenn die Schlampe zu deinem Geburtstag kommt, siehst du mich nicht“, sagt der Sohn-Polizist zu seiner Mutter. Die Schlampe-Schwester hat Aids. Auch wenn bei uns kaum noch Menschen an Aids sterben, ist Aids immer noch mit einem Makel behaftet, mit dem Makel des Schmutzes. Aids kriegt man nicht, so etwas holt man sich, weil man schwul ist, herumhurt oder Drogen nimmt. „Für uns bist du gestorben“, bekommen auch Straftäter, Junkies und Obdachlose von ihren Eltern und Geschwistern zu hören. „Für uns bist du gestorben.“ Es ist schwer zu leben, wenn man für die eigene Familie nicht mehr existiert. Als ich den Vater eines Drogenabhängigen am Telefon sagte, dass sein Sohn bei uns im Gefängnis sei, antwortete er mir: „Ich habe keinen Sohn.“

Hinter Gittern sterben nur wenige

Ich war 17 Jahre Seelsorger im Gefängniskrankenaus auf dem Hohenasperg bei Stuttgart. Dort liegen rund 150 Männer und Frauen hinter hohen Mauern und Stacheldraht, hinter Gittern und verschlossenen Türen. Manche sind schwer krank. Mit dem Tod vor Augen hinter Gittern zu leben, ist keine schöne Aussicht. Unheilbar kranke Insassen haben Angst, nicht mehr lebend aus dem Knast herauszukommen. Gefangene spotten: „Als haftunfähig gilt man erst, wenn man den Kopf unter dem Arm trägt.“ Wird ein kranker Gefangener – ohne Haftunterbrechung – in ein freies Krankenhaus verlegt, wird er dort rund um die Uhr bewacht und manchmal auch noch ans Bett gefesselt. Es sind mindestens 30 Jahre her, aber ich höre und sehe immer noch, wie  Sabine mir sagt: „Weißt du Petrus, was ich noch einmal möchte? Noch einmal daheim mit meiner Mutter frische Brötchen essen. Das wäre mein großer Wunsch.“ Jan, 25,  hatte nur noch einen Wunsch: noch ein Mal den Wald sehen. Er hat ihn nicht mehr gesehen, denn ein paar Tage nachdem er im Rollstuhl aus dem Gefängniskrankenhaus zu seiner Mutter entlassen wurde,  ist er gestorben.

Hinter Gittern sterben nur wenige Gefangene. Meistens werden sie kurz vor zwölf aus dem Gefängnis nach „draußen“ verlegt. Sie sollen nicht im Vollzug sterben, damit die Justiz sich nicht nachsagen lassen muss, sie sei inhuman. Trotzdem kommen nicht alle schwerstkranke Insassen lebend aus dem Knast. Manchmal sterben sie noch während der Antrag auf Begnadigung oder Haftunterbrechung läuft. Sterben hinter Gittern, das ist das Letzte.

Frühschicht fängt mit Lebendkontrolle an

Da gibt es keine Angehörigen am Sterbebett, die dem Todkranken liebevoll beistehen. Keine streichelnde Hand, die im stillen sagt: Du, ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht allein. Ich liebe dich. Kein Mensch in der Nähe, der den Schweiß von der Stirn wischt, die Tränen trocknet.  Keine Sitzwache, keine Hand, die einen hält. Höchstens ein Zellennachbar, der mal vorbeischaut. Trotzdem gibt es Lebenslängliche und auch Gefangene, die nach langen Jahren Haft nicht in ein freies Krankenhaus wollen. Sie wollen nicht in einem weißen Zimmer sterben, sondern dort, wo sie zuhause sind: im Knast. Da schreibt ein Lebenslänglicher in seiner Patientenverfügung „Ich möchte, in vertrauter Umgebung in der JVA Diez in meiner Zelle Nr. 6 LA  in meinem roten Anzug sterben.“

Nach dem Tod eines Gefangenen wird jedes Mal eine Obduktion angeordnet, um Fremdverschulden auszuschließen. Auch nach einer Selbsttötung. Die Suizidrate liegt im Knast vier Mal höher als draußen. Nicht umsonst fängt die Frühschicht im Gefängnis mit der Lebendkontrolle an. Nicht selten wird ein Gefangener tot in seiner Zelle aufgefunden. Da hat sich ein „Stotterer“ mit seinem Hosengürtel am Gitter erhängt, sechs Tage nach seiner Einlieferung. Die Schockeinwirkung der Haft treibt manchen Untersuchungsgefangenen in den Tod. Für die Selbsttötung hinter Gittern kann es viele Gründe geben. Da ist der Lebenslängliche, der am Vorabend noch im Gefangenen-Chor gesungen hat. Von außen schien alles in Ordnung. Hat der 56-jährige Mann es nicht verkraftet, dass er von seiner Familie keinen Besuch bekam? Die Frau mit den sechs Kindern hatte keine Möglichkeit, den weiten Weg ins Gefängnis zu finanzieren. Und warum hat der Mitarbeiter der Bücherei, der immer so gut drauf war, sich die Pulsadern aufgeschnitten? Hat er keinen anderen Ausweg mehr gesehen, nachdem die Zellennachbarn ihn immer wieder bedroht hatten? Oder konnte er auch nach 11 Jahren Haft immer noch nicht damit leben, seine Frau erwürgt zu haben, ein Mörder zu sein?

Wenn ein Gefangener sich selbst umbringt, trifft das immer auch die Mitgefangenen, vor allem die Zellenachbarn. Da wohnt man Wand an Wand neben einem Menschen und auf einmal ist er nicht mehr da. Ein Mensch, den man gut zu kennen glaubte, den man vielleicht auch mochte. Ein Mensch auf dem Stock, mit dem man gern Umschluss machte und in die Freistunde ging. Ein Mensch, mit dem man die Zeit seines Lebens geteilt hat. Auch in der Abschiebehaft bietet die Lebendkontrolle morgens manchen unschönen Anblick. In den letzten drei Jahren haben über 20 abgelehnte Asylbewerber in Deutschland sich das Leben genommen aus Angst nach ihrer Abschiebung in ihrer Heimat gefoltert oder umgebracht zu werden.

Es gibt lebende Tote

Menschen kürzen ihren Leidensweg ab. Sie können, wollen nicht mehr. Sie sind am Ende. Schon in jungen Jahren. Da setzt sich ein 23-jähriger Fixer den goldenen Schuss auf der Kloschüssel. Der Ab-ort. Ein abartiger Ort zum Sterben. „Wieso habt ihr mich wieder in dieses Scheiß-Leben zurück geholt?“, schreit die drogenabhängige Doris den Rettungsarzt nach erneuter Überdosis an. Doris hing mit 16 schon an der Nadel. Sie ging notgedrungen – wie so viele andere Drogensüchtige anschaffen, um sich das Geld für den nächsten Schuss zu beschaffen. Und „Senf“, ein alter Fixer sagt: „Ich bin zu feige, mir einen Strick zu nehmen, und darum begehe ich Selbstmord auf Raten.“ Die letzte Rate ist oft auch eine Er-lösung, die einzige Lösung von einem unlösbaren Problem. Manches Leben ist ein langes, langsames Sterben. Es gibt lebende Tote. Tote Lebende.

Max, der „lebenslänglich“ (LL-er) hat, sagt:  „Du lebst und bist doch schon tot. Du stirbst jeden Tag und lebst weiter. Eigentlich bin ich lebendig begraben.“ Nicht nur Gefangene mit langen Haftstrafen kommen sich vor oft wie ein Stück Gepäck im Schließfach. Abgelegt. Auch bei einem Nicht-Bettlägerigen Gefangenen fragt man, wo er liegt. Viele Einzelzellen sind doppelt belegt. Abends wird noch schnell eine Matratze in die Ein-Mann Zelle hineingeworfen, damit noch einer darin pennen kann. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Würde ist ein Konjunktiv, eine Möglichkeit. In Wirklichkeit wird die menschliche Würde oft mit Füßen getreten.

Petrus Ceelen, Hospiztag Schleswig-Holstein 2019 | Foto: Friso Gentsch

 

Gedanken und Beispiele dieses Beitrags sind enthalten im Buch:
Petrus Ceelen, Am Rande – Mitten unter uns. Mein Lebensbuch. Dignity Press

 

 

1 Rückmeldung

  1. Enrico sagt:

    Sehr interessanter Artikel. Leider ist es wirklich so das die menschliche Würde mit den Füßen getreten wird. Gefangene sind der Justiz völlig egal. Erst wenn etwas passiert dann reagieren sie nur damit sie gut da stehen und keinen möglichen Ärger bekommen. Ich habe selber schon oft und lange gesessen worauf ich nicht stolz bin. In diesen Zeiten habe ich viel Schlimmes erlebt und gesehen. Jetzt habe ich das Problem das ich wieder in den Knast muss und das wird mein endgültiges Ende sein. Mir droht eine sehr lange Freiheitsstrafe mit Sicherungsverwahrung. Zur Zeit wird noch gegen mich ermittelt, aber ich weiß jetzt schon, dass ich nicht die geringste Chance habe aus dieser Sache heil raus zu kommen.

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