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Geschichten zum Abschied von Manfred Jarmer in der JVA Diez

15. Dezember 2023

Dieses Jahr ist für Manfred Jarmer, Gefängnisseelsorger der JVA Diez, ein anders, als die der letzten Jahre. Es gibt in einem Übermaß Unfrieden in der Welt, der alle in den Fundamenten erschüttert. Was Nächstenliebe und Selbstlosigkeit bewirkt, zeigt für ihn der Bericht über Francine Christophe. Sie ist eine französische Schriftstellerin und Dichterin, die mit dem Konvoi Nr. 80 nach Bergen-Belsen deportiert wurde. Ebenso ist Jarmer der Willkommengruß in der Kathedrale von Coventry für seine Haltung als Gefängnisseelsorger wichtig.

„Mein Abschied steht an und ich werde meinen Dienst in der JVA Diez als Gefängnisseelsorger beenden. Eine wechselvolle Zeit geht zu Ende mit Höhen und Tiefen, mit Freude und Leid, mit Schönem und Traurigem. Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben“, sagt Jarmer. Zwei Texte fügt er an: Die Geschichte der französischen Schriftstellerin Francine Christophe sowie der Willkommensgruß in der Kathedrale von Coventry. Für Jarmer sind die Texte Programm, so wie er auch seinen Dienst im Gefängnis sah.

Ein Stück Schokolade

Das Kameralicht spiegelt sich in den Brillengläsern der 1933 geborenen Frau. Sie hat mehrere Internierungslager als Kind erlebt. Ihre Lippen sind rot geschminkt, die weißen Haare sorgfältig frisiert. Die Seniorin spricht im YouTube-Video Französisch: „Mein Name ist Francine Christophe. Ich wurde am 18. August 1933 geboren. Das war das Jahr der Machtübernahme Hitlers.“ Francine Christophe hält einen gelben Stern in Kamera, darauf steht Jude. „Sehen sie. Das ist mein Stern. Acht Jahre war ich alt, als ich ihn tragen musste. Und als ich in Bergen­-Belsen war, geschah eine erstaunliche Sache. Als Kinder von Kriegsgefangenen waren wir privilegiert. Wir durften etwas von zu Hause mitnehmen. Eine kleine Tasche mit zwei oder drei kleinen Sachen.

Eine Frau nahm Schokolade mit, eine andere etwas Zucker, eine dritte eine Handvoll Reis. Meine Mutter hatte zwei kleine Stücke Schokolade eingepackte. Sie sagte zu mir: ´Spar dir das für einen Tag auf, an dem es dir richtig schlecht geht und an dem du wirklich Hilfe brauchst. Dann werde ich dir die Schokolade geben und du wirst dich besser fühlen.´ Eine der Frauen, die mit uns eingesperrt waren, war schwanger. Sie war so dünn. Und dann kam der Tag, als die Wehen begannen. Sie ging mit meiner Mutter ins Lagerkrankenhaus, denn meine Mutter war Chefin der Baracke. Bevor sie gingen, fragte meine Mutter mich: ´Erinnerst du dich an die Schokolade, die ich für dich aufgehoben habe?´ ´Ja, Mama.´. ´Ich würde sie gern der Frau geben. Sie wird eine schwere Geburt haben, vielleicht stirbt sie. Wenn ich ihr die Schokolade gebe – vielleicht hilft es ihr.´ ´Ja, Mama. Mach das.´

Ich bin das Baby

Helene gebar das Baby. Ein kleines, winziges, schwaches Etwas. Helene aß die Schokolade. Sie starb nicht. Sie kam zurück zu den Baracken. Vor ein paar Jahren fragte mich meine Tochter: Wenn ihr Deportierten nach eurer Haft psychologische Unterstützung bekommen hättet, wäre alles dann vielleicht leichter für euch gewesen? Ich antwortete: Ohne Zweifel. Aber wir hatten sie nicht. Niemand dachte damals an mentale Schäden. Aber Du hast mich auf eine Idee gebracht! Daraufhin organisierte ich eine Konferenz mit dem Thema: Wenn die Überlebenden der Konzentrationslager 1945 eine therapeutische Behandlung gehabt hätten – was wäre dann geschehen? Die Veranstaltung zog viele Gäste an. Ältere überlebende, Historiker und viele Psychologinnen, Psychoanalytiker, Psychotherapeuten. Auf einmal trat eine Frau ans Podium und sagte: ´Ich lebe in Marseille. Dort bin ich Psychiaterin. Bevor ich meine Vortrag halte, möchte ich Francine Christophe etwas geben.´ Sie steckte eine Hand in die Tasche und zog ein Stück Schokolade heraus. Sie gab es mir. Und sie sagte: Ich bin das Baby.“

Willkommen in der Kathedrale von Coventry

Wir heißen besonders Euch willkommen, ihr Singles, Verheirateten, Geschiedenen, Verwitweten, Heterosexuellen, Homosexuellen, Fragenden, Gutbetuchten und Verwahrlosten. Wir heißen besonders Euch willkommen, ihr schreienden Babys und aufgedrehten Kleinkinder. Ihr seid willkommen, wenn ihr nur mal durchstöbern wollt, gerade aufgewacht oder frisch aus dem Gefängnis entlassen seid. Es ist uns egal, ob ihr noch überzeugtere Christen seid als der Erzbischof von Canterbury oder seit Weihnachten vor zehn Jahren nicht mehr in der Kirche wart. Wir heißen besonders euch willkommen, ihr über 60-jährigen, die immer noch nicht erwachsen sind, und ihr Teenager, die viel zu schnell erwachsen werden. Wir begrüßen Trimm-dich-Mütter und Fußball-Väter, brotlose Künstlerinnen, Ökofreaks, Milchkaffee-Schlürferinnen, Veganer, Junk-Food-Esserinnen. Wir heißen euch willkommen, wenn ihr auf dem Wege der Besserung oder immer noch abhängig seid.

Wir begrüßen Euch, wenn ihr Probleme habt, deprimiert seid oder organisierte Religion nicht mögt. Wir sind auch nicht so scharf darauf! Wir heißen Euch willkommen, wenn ihr glaubt, die Erde sei eine Scheibe, wenn ihr zu viel arbeitet, nicht arbeitet, nicht richtig schreiben könnt oder wenn ihr hier seid, weil Oma zu Besuch ist und hier mal vorbeischauen wollte. Wir heißen euch willkommen, die ihr tätowiert, gepierct, beides oder nichts von beiden seid. Wir heißen besonders diejenigen willkommen, die gerade ein Gebet gebrauchen können, denen die Religion als Kind aufgezwungen wurde oder die sich in der Innenstadt verlaufen und hierher verirrt haben. Wir begrüßen Pilgerinnen, Touristen, Suchende, Zweifelnde – und ganz besonders DICH.

Danke zum Abschied

„Wenn wir so eine Offenheit und Gemeinschaft erreichen, wie der Willkommensgruß von Coventry umreißt, wenn uns das hier im Kleinen gelingt, dann haben wir nicht nur in diesen Tagen viel gegen den Unfrieden in der Welt erreicht“, sagt Jarmer zu seinem Abschied aus seinem Dienst im Strafvollzug und der Sicherungsverwahrung (SV) im rheinland-pfälzischen Diez.

Quelle: Weihnachtsbrief aus der JVA Diez 2023

 

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