Das Licht taucht den provisorischen Altar in ein fahles Gelb. Sonnenstrahlen fallen durch die im Laufe der Jahrzehnte verschmutzten, gelben Acrylglas-Wellplatten mit dichten Stahlrohrgestellen darunter. Unter einem der Großdächer unmittelbar neben den Baracken im Bereich Zollkontrolle zur Einreise in die frühere DDR in Marienborn sitzen, als Tribut an die Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie, in jeweils gebührendem Abstand zueinander rund 200 Frauen und Männer und feiern am Tag der Deutschen Einheit in der Gedenkstätte Deutsche Teilung den traditionellen Ökumenischen Bittgottesdienst.
Vor dreißig Jahren, am 3. Oktober 1990, hörte die DDR als souveräner Staat auf zu existieren und trat der Bundesrepublik Deutschland bei. Seit nunmehr 28 Jahren findet in der Gedenkstätte am Rande der Autobahn 2 an diesem Tag ein Gottesdienst statt. In seiner Predigt würdigte Bischof Dr. Gerhard Feige die vergangenen Jahrzehnte zwischen Verheißung und Erfüllung. „Wir kommen jedes Jahr hierher“, sagt Karin Flügel leise, „mein Mann stammt aus Klein Wanzleben.“ Inzwischen leben sie in Wolfsburg, aber das frühere Leben im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt ist Teil ihres Lebens und sie bewahren die Erinnerungen an die Zeit der deutschen Teilung mit ihren regelmäßigen Besuchen in der Gedenkstätte.
Freiheit und Selbstbestimmung
Ein fester Bestandteil des Bittgottesdienstes ist das Verlesen der sogenannten Marienborner Erklärung. „Seit 1999 sprechen wir gemeinsam dieses Bekenntnis“, sagt Ulrich Haertel von der Männerarbeit der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig. Laut lesen die Gottesdienstbesucher den Text. „Wir im Westen Lebenden haben damals die Schwestern und Brüder im Osten oft nur durch den Zoo-Blick betrachtet“, heißt es dort. Und: „Wir gemeinsam haben uns gegenseitig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und die Verhältnisse für zementiert gehalten.“
„Gemeinsam gestalten“ ist das Leitwort des Gottesdienstes an dieser früheren Nahtstelle zwischen Ost und West. Die frühere DDR-Grenzübergangsstelle Marienborn ist der größte und wichtigste Kontrollpunkt an der innerdeutschen Grenze gewesen. Rund 1000 Personen waren in den Wellblechbaracken in den Bereichen Passkontrolle und Zoll bei den Grenztruppen und als Zivilbeschäftigte tätig. Zwei Zeitzeuginnen kommen zu Wort, sie berichten von ihren ganz persönlichen Erinnerungen an die Geschehnisse im Jahr 1990. Monika Brudlewski aus Oschersleben war CDU-Abgeordnete in der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer. Auch Silvina Vieweg aus Magdeburg zog seinerzeit für die CDU in das Parlament ein. „Wir wollten Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie. Das ist uns nicht übergestülpt worden, das war das, was wir wollten!“, sagt sie und ergänzt: „Ich kann noch heute die Nationalhymne nicht singen, ohne dass mir die Tränen kommen.“ Die ehemalige Krankenschwester Monika Brudlewski berichtet, sie habe im Wahlkampf 1990 die Begriffe Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit plakatiert, weil ihr diese in der Politik ganz besonders wichtig seien.
Scheindemokratie ein drückendes Joch
Posaunenklänge geben den Anwesenden anschließend Gelegenheit, die Worte der beiden Frauen nachwirken zu lassen. Erinnerungen, politische Bildung, Mahnung und liturgische Elemente gehen Hand in Hand. „Das Volk das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell“ ist die Lesung aus Jesaja 9. „Kann man diesen Text auch auf unsere deutsche Geschichte beziehen?“, fragt Bischof Feige zu Beginn seiner Predigt. Die Trennung in zwei Staaten könnte das zumindest nahelegen. „Im Geographieunterricht hing sogar eine Landkarte, die noch eine dritte Größe, die selbständige Einheit Westberlin, aufführte. Eine mögliche Schlussfolgerung wäre dann, dass sich die Finsternis und die Todesschatten in erster Linie auf die damalige DDR beziehen. Die, wie es hieß, sozialistische ‚Diktatur des Proletariats‘ mit ihrer Scheindemokratie und ihrem Spitzelsystem waren in der Tat ein ‚drückendes Joch‘. Zugleich frage ich mich aber auch, ob mit dem ‚Volk, das in der Finsternis ging‘, tatsächlich nur die DDR-Bevölkerung gemeint sein muss“, so der Bischof.
Zum einen habe er zur selben Zeit mit der Kirche eine grundsätzlich positive Erfahrung gemacht. „Sie war zwar ins gesellschaftliche Abseits gedrängt und ohne, wie man heute sagt, ‚Systemrelevanz‘, dafür aber konziliar und ökumenisch gesinnt, vielfach wie eine große Familie verbunden, mit den Worten des Erfurter Pastoraltheologen Franz-Georg Friemel: „eine Stätte der Freiheit (…) eine Gegenwelt zum verordneten Sozialismus (…) ein Schutzraum für das Menschliche“. Zum anderen erfuhren viele ehemalige DDR-Bürger nach der Wiedervereinigung Deutschlands, dass die Freiheit in einer pluralistischen Gesellschaft durchaus nicht grenzenlos, sondern auch voller Gefährdungen ist. Schon zuvor konnte man im da-maligen ‚Westen‘ Opfer von Konsumzwang werden oder anderweitig unter die Räder kommen. Und der Druck, den eine Wettbewerbsgesellschaft mit sich bringt, überfordert heutzutage viele Menschen in Ost wie West. Armut ist in unserer freiheitlichen Gesellschaft kein Randphänomen mehr. Auch der Kapitalismus birgt somit die Gefahr der Todesschatten, von denen Jesaja spricht“, sagte der Bischof.
Leben mit einer Grenze
„Wie gehen wir jedoch damit um, dass es wunderbare Erfahrungen von Rettung und Freiheit gibt, die täglichen Nachrichten uns aber auch immer wieder vor Augen führen, dass unsere Welt nach wie vor unerlöst scheint“, fragte der Bischof. Der Widerspruch zwischen der Verheißung und ihrer Erfüllung sei nach wie vor auszuhalten. „Wir brauchen aber den Stachel der Verheißungen, um uns nicht mit dem abzufinden, was wir erleben und was bedrücken kann. Die Verheißung ist dann keine billige Vertröstung, sondern ein Trost, der uns anspornt, über die Erfahrung unserer Wirklichkeit hinaus unsere Hoffnung auf Gott zu setzen und zugleich immer neu das Unsere dafür zu tun, dass doch wahr werden möge, was der Prophet uns zuspricht. Ermutigt durch das Unglaubliche, was vor 30 Jahren möglich wurde, und durch die Lichtblicke, die unser Leben immer wieder erhellen, lassen Sie uns nicht müde werden, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland konstruktiv mitzugestalten und für ein geistvolles Zusammenleben einzutreten. Und vertrauen wir darauf, dass Gott uns dabei nicht allein lässt.“ Nur wenige Meter neben dem Bischof steht ein großes Holzkreuz, in der Mitte gespalten und von Stacheldraht durchzogen. Es ist ein Geschenk von katholischen und evangelischen Jugendlichen, das seit 1999 in der Gedenkstäte im Raum der Stille seinen Platz hat.
Viele Menschen haben am Tag der Deutschen Einheit den ehemals größten deutsch-deutschen Grenzübergang Marienborn besucht, an dem sich coronabedingt nur bis zu 500 Menschen gleichzeitig aufhalten durften. „Am Nachmittag mussten wir die Gedenkstätte sogar zeitweise schließen“, berichtet deren Leiter Sven Sachenbacher. Vor der Ausstellung im Hauptgebäude habe es permanent lange Schlangen gegeben. Nach dem ökumenischen Bittgottesdienst wurde die interaktive Theaterperformance “Mauerland – Borderland” der Schauspielcompany Drehbühne Berlin vor etwa 150 Zuschauern uraufgeführt. Sie erzählt den Angaben zufolge mit einer Mischung aus Schauspiel, Nouveau Cirque, Film und Livemusik von der Entstehung und dem unmenschlichen Leben mit einer Grenze. Während des Stücks wird eine Mauer quer durch das Publikum gebaut. Nach der Premiere in Marienborn soll die Theaterperformance ab dem 8. Oktober in Berlin aufgeführt werden.
Bistum Magdeburg | Foto: Pressestelle hsp
Predigt von Bischof Dr. Gerhard Feige zum Download