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Frommer Wunsch? Raum offenhalten für das ganz Andere

19. Dezember 2023

Weihnachten ist keine Tradition. Weihnachten ist ein Fest. Ein Fest, das das Heute berührt. Und seine Botschaft: „Du kannst andere Wege gehen”. Ich möchte heute versuchen diese Botschaft zu leben. Erst einmal nur heute. Morgen sehe ich weiter. In der Woche vor Weihnachten bringe ich auf jede Zelle einen Kalender für das kommende Jahr und übergebe diesen dem Gefangenen. Etwa 200 Inhaftierte treffe ich auf ihrem Haftraum an. Die anderen sind auf der Arbeit. Mit den Angetroffenen gibt es Zeit für einen kurzen Plausch.

An der Hinweistafel im Flur einer Abteilung des Jugendvollzuges ist dieser Wunsch vom 18-jährigen Gefangenen Leo aufgemalt worden.

Das kommende Jahr hat 365 Tage. Schriebe jeder der 200 Aufgesuchten ein Tagebuch, dann summierten sich die Erzählungen auf 73.000 Tage. Was kann da alles passieren? Gäbe es diese Tagebucheinträge, es wären Geschichten von Menschen am Rand der Gesellschaft. Inhaftierte haben keine Lobby. Wer im Gefängnis sitzt, sitzt am Rand. Für mich ist es schon aussagekräftig, dass Gott für die Umstände und den Ort der Geburt seines Sohnes auch den Rand wählte. Den Rand der Gesellschaft. Anders kann ich es nicht bezeichnen, wenn jemand keinen Ort unter den Menschen findet, um geboren zu werden und stattdessen auf einen Stall zurückgreifen muss. Er kommt zu seines Gleichen hier im Gefängnis. Ich werde mich bemühen, Jesu Gleichen ehrfurchtsvoll zu begegnen.

Sind die denn so fromm

Ich werde manchmal mit staunendem Gesicht gefragt „Du bist Gefängnisseelsorger? Warum gibt es denn da Pfarrer, sind die etwa so gläubig?“ In dieser Frage wird alles Unverständnis hineingelegt, als habe der oder die Fragende die Gewissheit auf den größten Widerspruch in der Geschichte der Menschheit gestoßen zu sein. Meine Antwort ist dann meistens: „Nein, sie sind nicht gläubiger als der andere Teil der Menschheit, aber sie haben mehr Sehnsucht nach Heilung“. Und Tatsache ist, Gerfängnisseelsorger versuchen den Raum offen zu halten nach dem ganz Anderen. Dem, der noch neue Wege kennt, dem der in seiner Widersprüchlichkeit Ja sagt zu den Menschen, die sonst nur Nein hören. Der, dem unser Gut-sein oder oder unser Schlecht-sein kein Kriterium dafür ist uns zu lieben.

Antennen der existenziellen Nöte

Wir versuchen erfahrbar zu machen, dass wir Menschen etwas brauchen, dass uns unverfügbar bleibt und uns doch in Fülle geschenkt wird. Leben, zum Beispiel. Wir versuchen Horizonte aufzuzeigen, die von den Männern gefüllt werden dürfen. Darum gibt es Seelsorge im Gefängnis, nicht, weil die Männer so fromm sind, wohl aber, weil viele ihre Antennen im Gefängnis ganz weit ausgefahren haben auf der existentiellen Suche nach einem neuen Weg. Diese Suche habe ich in dieser Absolutheit in der Kirchengemeinde nur sehr selten vorgefunden. Hier ist sie zum Greifen nahe.

Hans-Gerd Paus

 

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