Es scheint manchmal, als gäbe es auf jedes Problem eine einfache Antwort. Menschen ohne Lobby kommen dabei denkbar schlecht weg. Beispielsweise, dass Inhaftierte hart bestraft werden sollen und am besten gehören sie für immer weggesperrt! Die Probleme sind aber komplex und vielfältig. Hans-Gerd Paus, ehemaliger Gefängnisseelsorger in der JVA Geldern und zurzeit unterwegs auf Pilgertour, erzählt auf dem Weg erlebte Geschichten.
Diese laden zum Nachdenken ein. Aufgrund seiner Arbeit traut er sich das zu, weil er eineinhalb Jahrzehnte im Gefängnis gearbeitet hat. “Im Gefängnis fand ich die Antwort. Es ist das Christ sein ohne Lobby. Hinterfragt werden in jeder theologischen Äußerung, wenn sie wie auswendig gelernt klingt und nicht authentisch. Der gelebte Glaube in einem Umfeld, das manchmal gläubige Menschen belächeln. Da wird nicht ´Herr Pfarrer´ gesagt, sondern Wolkenschieber und Himmelskomiker”, so Paus, der aus seinen Erfahrungen als Gefängnisseelsorger erzählt:
Manchmal hart und verbittert
Ein Gefangener vermisste seine Mama. Das Wort sprach er aus, wie er es in seiner Kindheit ausgesprochen haben mag, flehentlich und bittend. Über 30-jährig spürt er, dass er seine Jugend an die Drogen verloren hat und seine frühe Erwachsenenzeit an den Knast.Heute war er das Kind. Weiter war er noch nicht, das spürte er selber und seine ganze Traurigkeit und Sehnsucht lag in dem einen Wort: Mama. Einen Inhaftierten traf ich schlafend an. Er schläft eigentlich immer. Arbeit hat er nicht, und der Knast ist ihm fast wie eine Heimat. Er isst immer meine ganzen Kekse weg. Nur wenn ich ihn nach seiner Familie frage wird er hart, verbittert. Will nicht sprechen. Er käme alleine klar. Dann fließen Tränen. Und ich weiß, er kommt nicht alleine klar.
Jeden Tag Schweigen aushalten
Im Knast glaubt er das, weil er versorgt ist. Wieder einem steht der Schreck noch ins Gesicht geschrieben. Jung an Jahren zum ersten mal in Knast. Die Tinte auf dem Papier, das seine Verurteilung zu vielen Jahren Haft festhält, ist noch nicht trocken. Seine Zukunft hätte super laufen können. Die Voraussetzungen waren gegeben. Wenn es diesen einen Tag nicht gegeben hätte… Einer spricht seit Monaten nicht. Kein Wort! Ob er sprechen kann? Er soll früher „ganz normal“ gewesen sein. Irgendetwas ist passiert. Seit Wochen beherrscht mich das Gefühl keinen Deut weiter zu kommen mit ihm. Seine Kommunikation besteht darin, kaum erkennbar mit dem Kopf zu nicken, zu schütteln oder den Kopf still zu halten. Ja-Nein-keine Antwort – interpretiere ich. Manchmal bin ich mir aber nicht sicher.
Jeden Tag eine Stunde Schweigen aushalten. Nicht wissen, was er will. Noch schlimmer, nicht zu wissen, was er nicht will. Ein anderer spricht nur, ohne Ende. Er springt gedanklich von Ast zu Ast. Erzählt alles! Alles? Auch da bin ich mir nicht sicher. Wer viel redet kann auch besser im Wortschwall das verstecken, worüber er nicht reden will. Der Schwall der Worte steht wie eine Mauer vor ihm. Mir dröhnt der Kopf, wenn er bei mir ist. Manchmal ist mir danach laut zu werden, als könnte ich dann besser zu ihm durchdringen. Hilflos fühle ich mich bei beiden. Gestern im Gottesdienst sang ich: Kündet allen in der Not: Fasset Mut und habt Vertrauen! Wie denn, wenn ich ständig das Gefühl habe, nicht verstehen zu können und nicht verstanden zu werden?
Sehnsucht nach…
Jemand wirft mir mit verzweifeltem Blick einen Stapel Briefe vom Gericht auf den Tisch. Er verstehe das alles nicht. Das könne doch alles nicht wahr sein. Verzweiflung spricht aus ihm. Jemand ist tierisch nervös. Hat einen Brief an seinen Sohn geschrieben. Ob ich mal drüber gucken könnte. Er sei sich so unsicher. Geantwortet habe der Sohn noch nie. Dabei sehnt er sich so sehr danach. Aber seit seiner Tat ist Funkstille. Mit dem Sohn, mit der Frau, mit…. er stockt… Mit allen. Einer spricht kein Wort, das empfinde ich am anstrengendsten – so spielen wir Tischfußball. Er gewinnt und ist glücklich. Da hört einer Stimmen. Er will meine Stimme und die sollen die anderen Stimmen zum Schweigen bringen, mit Macht und dauerhaft. Ich höre, was seine Stimmen sagen, und das verheißt nichts Gutes. Einer freut sich die Prüfung bestanden zu haben. Er darf sich bald Geselle nennen lassen. Bei mir bedankt er sich für die Begleitung in den letzten fünf Jahren. Ich freue mich mit ihm. Hoffe, dass er auch alle Prüfungen besteht, wenn er vor dem Tor steht. Ein Tag im Advent. Advent: Die Sehnsucht, dass das Alte endlich aufhören soll, und Neues endlich beginnt, ist riesengroß. Bei den Gefangenen und auch bei mir.
Hans-Gerd Paus