Ein großartiges Spiel ist das Domino. Als Kind und noch heute bereitet es mir Spaß die Holzbrettchen in einer langen Reihe hintereinander aufzubauen. Das erste umfallende Brettchen löst die Kettenreaktion aus. Mit dem Auge beobachte ich, wie die Dominosteine der Reihe nach umfallen. Es muss auf jeden Fall eine lange Reihe sein. Wie ärgerlich, wenn ein Abstand zu groß ist und das Umfallen gestoppt wird. Die Enttäuschung ist dann im Spiel groß.
Im wirklichen Leben ist der „Dominoeffekt“ kein Spiel. Er ist negativ behaftet. Ein einziger Auslöser kann im Leben alles ins Rollen bringen. Ein Stop scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Ich denke an jugendliche Inhaftierte, die als Kind schon einiges in die Wiege gelegt bekommen haben. Eine alkoholkranke Mutter, ein streitsüchtiger Stiefvater, eine psychische Erkrankung, die nicht so einfach zu heilen ist. Der Weg ist vorgegeben. „Einmal Knacki, immer Knacki.“
Manche der Gefangenen finden sich damit ab. Sie sagen: „Es ist eben mein Schicksal.“ Die umstürzenden Klötze im Leben fallen wie sie wollen. Offenen Auges gehen manche in den Abgrund. Wie kann man das stoppen? Durch gutes Zureden und durch emphatisches Verstehen? Ich denke, eine Veränderung des Verhaltens kann oft nur passieren, wenn gar nichts mehr geht. Wenn ich am Boden bin. Immer wieder werden die selben Muster gewählt. Solch ein schmerzhaftes Lernen ist leider Realität.
Und doch muss es nicht immer sein. Es geht auch anders. Den Effekt des Umfallens kann ich selbst aufhalten, indem ich einen anderen Blickwinkel einnehme, indem ich durch andere Hinweise erhalte und selbst erkennen lerne, wie ich aus festgefahrenen Fahrwassern aussteigen kann. Manches Mal brauche ich Druck und muss zwangsweise einen Stop einlegen. Vielleicht sehe ich dann erst die Ursachen und die Gründe dahinter. Da beziehe ich mich mit ein. Ich muss nicht erst straffällig werden. Es gibt Beispiele genug in meinem eigenen Leben. Da halte ich viel zu viel aus in Beziehungen, die schon längst zerrüttet sind. Oder ich arbeite trotz massiven Mobbings einer Kollegin weiter an diesem Arbeitsplatz, weil es irgendwie doch noch nicht so schlimm zu sein scheint.
Einer der Jugendlichen in Haft sagt: „Mir gefällt mein Leben ganz gut so. Ich werde weiter chillen und feiern gehen. Alles andere ist doch langweilig.“ Irgendwie höre ich aber aus seiner Stimme heraus, dass er sich ein anderes Leben wünscht. Dass er es satt hat, immer wieder im Knast zu landen. Die Umstände sind eben so wie sie sind. Gerne wollen wir die Gründe „aussen“ suchen und diese verantwortlich machen für unsere Misere. Da ist es der Bewährungshelfer, der unfähig ist oder die Psychologin, die mich nicht therapieren kann. So manche Bequemlichkeiten überschatten (m)eine Veränderung. Man richtet sich ein, erfüllt Vorgaben, die gesellschaftlich wie familiär vordergründig fest stehen.
Da tut es gut, sich innerlich wie äußerlich zu orientieren, sich neu auszurichten. Veränderungen kommen vielmals schleichend und nicht auf Knopfdruck. Manches habe ich nicht geplant. Ohne mein Zutun passiert „es“ einfach. Und trotzdem brauche ich eine Option, eine Vision oder einen Wunsch, der mich weiterführt. „Zufälle gibt es nicht“, sagt ein erfahrener Gefängnisseelsorger und fügt hinzu: „Wir suchen uns das Umfeld und die Beziehungen selbst aus. Lebenssituationen zeigen sich immer wieder mit anderen Gesichtern. Das selbe Problem kann dahinter verborgen sein. Es geht vor allem darum, dies zu erkennen.“
Ein Dominoeffekt, der umgestürzte Bausteine wieder aufrichtet, gibt es nicht. Der Moment, die verpasste Chance und das „damals so Schöne“ kann ich nicht zurückdrehen. Aber ich kann daran reifen und diese persönliche Erfahrung als Stärke nutzen. In diesem Sinne kann ich Dominosteine wieder aufrichten, so dass sie mich nicht bestimmten. Es ist eine Lebensaufgabe, zu der auch das Betrauern, das Klagen und das Aushalten gehört. Mein Schicksal habe ich in der Hand, trotz der Widrigkeiten und Abgründe. So einfach würde ich nicht aufgeben, das Leben immer wieder neu auf- und auszurichten.
Michael King | JVA Herford