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Divertimento: Eine Fülle von Lebensweisheiten in diesem Film

14. September 2023

Im Kulturzentrum der „Lagerhalle“ in Osnabrück wird am Abend ein Kinofilm gezeigt. Dieser erzählt die auf der wahren Begebenheit basierten Geschichte von Zahia Ziouani. Sie wächst in den 90er-Jahren in der Pariser Banlieue auf. Gegen alle Widerstände will die 17-Jährige Dirigentin werden. Der Film von Marie Castille Mention-Schaar heißt „Divertimento“, so wie das von Zahia Ziouani gegründete Orchester. Nach dem musikalischen Abspann blickt der ehemalige Priester und Buchautor Pierre Stutz in fünf Minuten auf die spirituellen Lebensweisheiten des bewegenden Filmes. Dieser Moment ist genauso spannend, wie viele der Filmszenen selbst.

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Als Divertimento (italienisch: Vergnügen) bezeichnet man ein mehrsätziges Instrumentalstück. Klassisch beginnt der Film mit einem solchen Initiationsmoment: Spät abends kommt die kleine Zahia ins Wohnzimmer gelaufen, wo ihre Eltern gerade eine Aufführung von Ravels „Bolero“ anschauen. Sie ist schaut gebannt auf den Fernseher und ihre Hände machen angedeutete Dirigierbewegungen. Zahia und ihrer Zwillingsschwester Fettouma wachsen als Kinder algerischer Einwanderer in den 1990er Jahren in der Pariser Banlieue Seine-Saint-Denis (Stains) auf. Mit 17 Jahren wechseln die musiktalentierten Mädchen in die Abschlussklasse des renommierten Pariser Lycée Racine, wo sie von den KlassenkameradInnen alles andere als herzlich aufgenommen werden: „Gibt es klassische Musik aus dem Vorort in Stains?“, maßregeln sie. Da Zahia keinen eigenen Taktstock hat, legen sie ihr ein Baguettebrot auf das Pult. Die Geschwister werden doppelt diskriminiert: als Einwanderer und als jugendliche Frauen.

Keine Kohle, aber Fantasie

Zahia spielt als Instrument die Bratsche. Sie träumt Dirigentin werden: „Das ist kein Beruf für Frauen“, meint der berühmte Stardirigent Sergiu Celibidache, dem der Schauspieler Niels Arestrup Gewicht verleiht. Angeblich fehle Frauen für den elitären Beruf das nötige Durchhaltevermögen, meint er, lässt sich aber von Zahias Talent beeindrucken. Der Film beeindruckt durch die Körpersprache, die Mimik und fast schon tanzenden Bewegung der angehenden Dirigentin. So nimmt Zahia immer wieder Rhythmen aus ihrer Umgebung auf: Geräuschen in der Küche, der U-Bahn oder von der Straße. Werke von Haydn, Ravel, Prokoview oder Camille Saint-Saëns gibt es zu hören. Ganz im Sinne von Camille Saint-Saëns, der in seiner Musik unterschiedliche Kulturen und Klänge zusammenführt, gründet Zahia das Orchester „Divertimento“. Hier sollen SchülerInnen aus Stains mit SchülerInnen vom Lycée Racine zusammen musizieren. Als im Proberaum die Notenständer aus Protest der „Elitären“ verschwinden, sind es die Underdogs aus der Banlieue, die die Idee haben, sich die Notenblätter einfach gegenseitig auf den Rücken zu kleben: „Am Stadtrand haben wir keine Kohle, aber Fantasie!“

Mut und Selbstzweifel umarmen sich

„Seit ich über so Jahren lasse ich mich durch Kinofilme zu zentralen spirituellen Grundhaltungen ermutigen. In diesem bezaubernden Film finde ich eine Fülle von Lebensweisheiten, ohne lange zu suchen! Seinen Lebenstraum zu leben, beharrlich­ entschieden sich für sein inneres Feuer, sein ´feu sacré einzusetzen, zeigen uns die beiden Zwillingsschwestern Zahia und Fettoume kraftvoll auf. Es ist nie spät, seiner Intuition zu trauen und seine tiefe Sehnsucht zu verwirklichen“, sagt Pierre Stutz nach dem musikalischen Abspann des Filmes. Mut und Selbstzweifel umarmen sich in diesem Film. Zahia setzt sich nicht nur für sich selbst sein, sondern für die Würde aller Menschen, die durch die Musik entfaltet werden kann. In den Gesprächen zwischen dem Dirigenten Sergiu Celibidache und Zahia entdeckt man kleine Perlen einer spirituellen Lebenskunst.

Schauspielerin Oulaya Amamra (links) mit Zahia Ziouani, eine der wenigen Dirigentinnen weltweit. Foto: Prokino

Musik ist in uns

Der weise Star-Maestro sagt beispielsweise den Satz: „Musik lässt sich nicht definieren. Wir haben alle die Musik in uns… Sie ist lebendig und braucht Spontanität.“ lnterreligiös lässt sich diese Kernaussage in der mystischen Tradition finden. Gott* ist nie zu haben, immer im Werden, allzeit gegenwärtig in jeder und jedem von uns. Die 17-jährige Zahia beschreibt ihr Lebensthema: „Die Musik ist mein Leben, wenn ich dirigiere dann fühle ich mich lebendig.“, sagt sie. „Was ist mein Leben? Wann fühlen Sie sich lebendig?“, fragt Stutz die Kinobesucher. Die Antwort könnte in einer der Filmsequenzen sein, in der Zahia im Gespräch mit dem Bürgermeister sagt: „Jugendliche sollen zusammenspielen wie im Fußball. Erst wenn alle zusammenspielen, entsteht eine Energie, die uns übersteigt. Die Musik ruft das Anspruchsvollste in jeder und jedem von uns hervor… Musizieren kann Menschen verändern.“ Was für eine kraftvolle Aussage, die Zahia vor allem Benachteiligten eröffnen möchte.

Pierre Stutz wirft nach dem musikalischen Abspann einen Blick auf die spirituellen Lebensweisheiten des bewegten Filmes. Foto: Imago

In der Partitur ist alles, außer das Wesentliche

In einer Filmszene spielt das Ensemble im Gefängnis. Die Gefangenen werden durch Bedienstete in den Vortragssaal hereingeführt. Darunter ist der inhaftierte Vater des jungen Klarinettenspielers. Dieser traut sich nicht, seinen Part zu spielen. Zahia gibt Zeichen, dass die anderen weiterspielen mögen. Er langsam traut sich dieser und es entwickelt sich eine innere Kommunikation zwischen dem Sohn und dem inhaftierten Vater. Der große Star-Dirigent entfaltet dieses Vermächtnis für Zahia: „Die Technik ist das eine, in der Partitur ist alles, außer das Wesentliche… Du fühlst Dich alleine, solange du nicht ganz vereint bist mit dem Orchester… wenn diese Einheit sich ereignet, kann ein Wunder geschehen.“ Stutz dazu: „Wir alle kennen Momente, in denen wir voll eins sind, voll da und ganz weg! Die starke Unterstützung der Eltern berührt mich sehr in diesem Film. „Bleib am Ball. Lass nicht zu, dass das LEBEN für Euch entscheidet“, sagt der Vater. Zahia Ziouani (*1978) ist gelungen gegen alle Widerstände ihr Orchester zu gründen.

Musik verbindet

Selbstzweifel und der harte Ton des „Abkanzelns“ durch den Star-Dirigenten oder des Mitschülers, der ebenfalls Dirigent werden will, lassen Zahia wütend und traurig zurück. Es ist ihre Schwester und alle Anderen des Orchesters, die Zahia zurückholen. Der letzte Filmmoment trifft tief drinnen und löst Tränen aus. Ein einzelner Spieler des Orchesters „trommelt“ Zahia aus ihrem Schlaf ihrer Zweifel. Auf dem Hof in ihrem Stadtteil gesellen sich immer mehr SpielerInnen des Orchestern mit ihren Instrumenten hinzu. Das Orchester kann ohne Dirigentin spielen. Sie verstehen ihr Fach. Zahia verschmelzt förmlich mit dem Orchester. Sie beginnt in phantasievoller Weise die MusikerInnen und das Orchester zu dirigieren. Der Film ist ein Lebensspiegel gegen Rassismus und Diskriminierung. Musik kann Menschen verbinden, egal aus welcher Lebenswirklichkeit heraus.

Michael King | Quelle: Pierre Stutz

 

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